Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Christenthum und Paulinismus. XVII.
als der Evangelien, so daß man dasselbe geradezu als Pauli-
nismus
bezeichnet hat. Die bedeutende Persönlichkeit des
Apostels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntniß und
praktischen Sinn besaß als Christus, ist für die anthro-
pologische
Beurtheilung auch insofern interessant, als der
Rassen-Ursprung der beiden großen Religions-Stifter sehr
ähnlich ist.14 Auch von den beiden Eltern des Paulus war
(neueren historischen Forschungen zufolge) der Vater griechischer,
die Mutter jüdischer Rasse. Die Mischlinge dieser beiden
Rassen, die ursprünglich ja sehr verschieden sind (obgleich beide
Zweige derselben Species: Homo mediterraneus!), zeichnen
sich oft durch eine glückliche Mischung der Talente und Charakter-
Eigenschaften aus, wie auch viele Beispiele aus neuerer Zeit
und aus der Gegenwart beweisen. Die plastische orientalische
Phantasie der Semiten und die kritische occidentalische Ver-
nunft der Arier ergänzen sich oft in vortheilhafter Weise. Das
zeigt sich auch in der paulinischen Lehre, die bald größeren
Einfluß gewann als die älteste urchristliche Anschauung. Man
hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue
Erscheinung bezeichnet, deren Vater die griechische Philosophie,
deren Mutter die jüdische Religion war; eine ähnliche Mischung
zeigte der Neuplatonismus.

Ueber die ursprünglichen Lehren und Ziele von Christus
-- ebenso wie über viele wichtigen Seiten seines Lebens -- sind
die Ansichten der streitenden Theologen um so mehr aus einander
gegangen, je mehr die historische Kritik (Strauß, Feuerbach,
Baur, Renan
u. s. w.) die zugänglichen Thatsachen in ihr wahres
Licht gestellt und unbefangene Schlüsse daraus gezogen hat.
Sicher bleibt davon stehen das edelste Princip der allgemeinen
Menschenliebe und der daraus folgende höchste Grundsatz der
Sittenlehre: die "goldene Regel" -- beide übrigens schon
Jahrhunderte vor Christus bekannt und geübt (vergl. Kap. 19)!

Chriſtenthum und Paulinismus. XVII.
als der Evangelien, ſo daß man dasſelbe geradezu als Pauli-
nismus
bezeichnet hat. Die bedeutende Perſönlichkeit des
Apoſtels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntniß und
praktiſchen Sinn beſaß als Chriſtus, iſt für die anthro-
pologiſche
Beurtheilung auch inſofern intereſſant, als der
Raſſen-Urſprung der beiden großen Religions-Stifter ſehr
ähnlich iſt.14 Auch von den beiden Eltern des Paulus war
(neueren hiſtoriſchen Forſchungen zufolge) der Vater griechiſcher,
die Mutter jüdiſcher Raſſe. Die Miſchlinge dieſer beiden
Raſſen, die urſprünglich ja ſehr verſchieden ſind (obgleich beide
Zweige derſelben Species: Homo mediterraneuſ!), zeichnen
ſich oft durch eine glückliche Miſchung der Talente und Charakter-
Eigenſchaften aus, wie auch viele Beiſpiele aus neuerer Zeit
und aus der Gegenwart beweiſen. Die plaſtiſche orientaliſche
Phantaſie der Semiten und die kritiſche occidentaliſche Ver-
nunft der Arier ergänzen ſich oft in vortheilhafter Weiſe. Das
zeigt ſich auch in der pauliniſchen Lehre, die bald größeren
Einfluß gewann als die älteſte urchriſtliche Anſchauung. Man
hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue
Erſcheinung bezeichnet, deren Vater die griechiſche Philoſophie,
deren Mutter die jüdiſche Religion war; eine ähnliche Miſchung
zeigte der Neuplatonismus.

Ueber die urſprünglichen Lehren und Ziele von Chriſtus
— ebenſo wie über viele wichtigen Seiten ſeines Lebens — ſind
die Anſichten der ſtreitenden Theologen um ſo mehr aus einander
gegangen, je mehr die hiſtoriſche Kritik (Strauß, Feuerbach,
Baur, Renan
u. ſ. w.) die zugänglichen Thatſachen in ihr wahres
Licht geſtellt und unbefangene Schlüſſe daraus gezogen hat.
Sicher bleibt davon ſtehen das edelſte Princip der allgemeinen
Menſchenliebe und der daraus folgende höchſte Grundſatz der
Sittenlehre: die „goldene Regel“ — beide übrigens ſchon
Jahrhunderte vor Chriſtus bekannt und geübt (vergl. Kap. 19)!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0378" n="362"/><fw place="top" type="header">Chri&#x017F;tenthum und Paulinismus. <hi rendition="#aq">XVII.</hi></fw><lb/>
als der Evangelien, &#x017F;o daß man das&#x017F;elbe geradezu als <hi rendition="#g">Pauli-<lb/>
nismus</hi> bezeichnet hat. Die bedeutende Per&#x017F;önlichkeit des<lb/>
Apo&#x017F;tels <hi rendition="#g">Paulus</hi>, der jedenfalls viel mehr Weltkenntniß und<lb/>
prakti&#x017F;chen Sinn be&#x017F;aß als <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tus</hi>, i&#x017F;t für die <hi rendition="#g">anthro-<lb/>
pologi&#x017F;che</hi> Beurtheilung auch in&#x017F;ofern intere&#x017F;&#x017F;ant, als der<lb/><hi rendition="#g">Ra&#x017F;&#x017F;en-Ur&#x017F;prung</hi> der beiden großen Religions-Stifter &#x017F;ehr<lb/>
ähnlich i&#x017F;t.<note xml:id="end14a" next="#end02_14" place="end" n="14"/> Auch von den beiden Eltern des <hi rendition="#g">Paulus</hi> war<lb/>
(neueren hi&#x017F;tori&#x017F;chen For&#x017F;chungen zufolge) der Vater griechi&#x017F;cher,<lb/>
die Mutter jüdi&#x017F;cher Ra&#x017F;&#x017F;e. Die Mi&#x017F;chlinge die&#x017F;er beiden<lb/>
Ra&#x017F;&#x017F;en, die ur&#x017F;prünglich ja &#x017F;ehr ver&#x017F;chieden &#x017F;ind (obgleich beide<lb/>
Zweige <hi rendition="#g">der&#x017F;elben Species</hi>: <hi rendition="#aq">Homo mediterraneu&#x017F;</hi>!), zeichnen<lb/>
&#x017F;ich oft durch eine glückliche Mi&#x017F;chung der Talente und Charakter-<lb/>
Eigen&#x017F;chaften aus, wie auch viele Bei&#x017F;piele aus neuerer Zeit<lb/>
und aus der Gegenwart bewei&#x017F;en. Die pla&#x017F;ti&#x017F;che orientali&#x017F;che<lb/>
Phanta&#x017F;ie der <hi rendition="#g">Semiten</hi> und die kriti&#x017F;che occidentali&#x017F;che Ver-<lb/>
nunft der <hi rendition="#g">Arier</hi> ergänzen &#x017F;ich oft in vortheilhafter Wei&#x017F;e. Das<lb/>
zeigt &#x017F;ich auch in der paulini&#x017F;chen Lehre, die bald größeren<lb/>
Einfluß gewann als die älte&#x017F;te urchri&#x017F;tliche An&#x017F;chauung. Man<lb/>
hat daher auch den <hi rendition="#g">Paulinismus</hi> mit Recht als eine neue<lb/>
Er&#x017F;cheinung bezeichnet, deren Vater die griechi&#x017F;che Philo&#x017F;ophie,<lb/>
deren Mutter die jüdi&#x017F;che Religion war; eine ähnliche Mi&#x017F;chung<lb/>
zeigte der <hi rendition="#g">Neuplatonismus</hi>.</p><lb/>
          <p>Ueber die ur&#x017F;prünglichen Lehren und Ziele von Chri&#x017F;tus<lb/>
&#x2014; eben&#x017F;o wie über viele wichtigen Seiten &#x017F;eines Lebens &#x2014; &#x017F;ind<lb/>
die An&#x017F;ichten der &#x017F;treitenden Theologen um &#x017F;o mehr aus einander<lb/>
gegangen, je mehr die hi&#x017F;tori&#x017F;che Kritik (<hi rendition="#g">Strauß, Feuerbach,<lb/>
Baur, Renan</hi> u. &#x017F;. w.) die zugänglichen That&#x017F;achen in ihr wahres<lb/>
Licht ge&#x017F;tellt und unbefangene Schlü&#x017F;&#x017F;e daraus gezogen hat.<lb/>
Sicher bleibt davon &#x017F;tehen das edel&#x017F;te Princip der allgemeinen<lb/>
Men&#x017F;chenliebe und der daraus folgende höch&#x017F;te Grund&#x017F;atz der<lb/>
Sittenlehre: die &#x201E;<hi rendition="#g">goldene Regel</hi>&#x201C; &#x2014; beide übrigens &#x017F;chon<lb/>
Jahrhunderte vor Chri&#x017F;tus bekannt und geübt (vergl. Kap. 19)!<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[362/0378] Chriſtenthum und Paulinismus. XVII. als der Evangelien, ſo daß man dasſelbe geradezu als Pauli- nismus bezeichnet hat. Die bedeutende Perſönlichkeit des Apoſtels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntniß und praktiſchen Sinn beſaß als Chriſtus, iſt für die anthro- pologiſche Beurtheilung auch inſofern intereſſant, als der Raſſen-Urſprung der beiden großen Religions-Stifter ſehr ähnlich iſt. ¹⁴ Auch von den beiden Eltern des Paulus war (neueren hiſtoriſchen Forſchungen zufolge) der Vater griechiſcher, die Mutter jüdiſcher Raſſe. Die Miſchlinge dieſer beiden Raſſen, die urſprünglich ja ſehr verſchieden ſind (obgleich beide Zweige derſelben Species: Homo mediterraneuſ!), zeichnen ſich oft durch eine glückliche Miſchung der Talente und Charakter- Eigenſchaften aus, wie auch viele Beiſpiele aus neuerer Zeit und aus der Gegenwart beweiſen. Die plaſtiſche orientaliſche Phantaſie der Semiten und die kritiſche occidentaliſche Ver- nunft der Arier ergänzen ſich oft in vortheilhafter Weiſe. Das zeigt ſich auch in der pauliniſchen Lehre, die bald größeren Einfluß gewann als die älteſte urchriſtliche Anſchauung. Man hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue Erſcheinung bezeichnet, deren Vater die griechiſche Philoſophie, deren Mutter die jüdiſche Religion war; eine ähnliche Miſchung zeigte der Neuplatonismus. Ueber die urſprünglichen Lehren und Ziele von Chriſtus — ebenſo wie über viele wichtigen Seiten ſeines Lebens — ſind die Anſichten der ſtreitenden Theologen um ſo mehr aus einander gegangen, je mehr die hiſtoriſche Kritik (Strauß, Feuerbach, Baur, Renan u. ſ. w.) die zugänglichen Thatſachen in ihr wahres Licht geſtellt und unbefangene Schlüſſe daraus gezogen hat. Sicher bleibt davon ſtehen das edelſte Princip der allgemeinen Menſchenliebe und der daraus folgende höchſte Grundſatz der Sittenlehre: die „goldene Regel“ — beide übrigens ſchon Jahrhunderte vor Chriſtus bekannt und geübt (vergl. Kap. 19)!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/378
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/378>, abgerufen am 23.11.2024.