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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Quellen des Christenthums. XVII.
Organisation ungleich schwerer und gefährlicher, als diejenigen
aller anderen Religionen.

Entwickelung des Christenthums. Um die ungeheure
Bedeutung des Christenthums für die ganze Kulturgeschichte,
besonders aber seinen principiellen Gegensatz gegen Vernunft
und Wissenschaft richtig zu würdigen, müssen wir einen flüchtigen
Blick auf die wichtigsten Abschnitte seiner geschichtlichen Ent-
wickelung werfen. Wir unterscheiden in derselben vier Haupt-
perioden: I. das Urchristenthum (die drei ersten Jahr-
hunderte), II. den Papismus (zwölf Jahrhunderte, vom
vierten bis fünfzehnten), III. die Reformation (drei Jahr-
hunderte, vom sechzehnten bis achtzehnten), IV. das moderne
Scheinchristenthum (im neunzehnten Jahrhundert).

I. Das Urchristenthum umfaßt die ersten drei Jahr-
hunderte. Christus selbst, der edle, ganz von Menschenliebe er-
füllte Prophet und Schwärmer, stand tief unter dem Niveau
der klassischen Kulturbildung; er kannte nur jüdische Tradition; er
hat selbst keine einzige Zeile hinterlassen. Auch hatte er von dem
hohen Zustande der Welterkenntniß, zu dem griechische Philosophie
und Naturforschung schon ein halbes Jahrtausend früher sich
erhoben hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und
von seiner ursprünglichen Lehre wissen, schöpfen wir aus den
wichtigsten Schriften des Neuen Testamentes, erstens aus den
vier Evangelien und zweitens aus den paulinischen Briefen.
Von den vier kanonischen Evangelien wissen wir jetzt,
daß sie im Jahre 327 auf dem Koncil zu Ricäa durch 318 ver-
sammelte Bischöfe aus einem Haufen von widersprechenden und
gefälschten Handschriften der drei ersten Jahrhunderte ausgesucht
wurden. Auf die weitere Wahlliste kamen vierzig, auf die
engere vier Evangelien. Da sich die streitenden, boshaft sich
schmähenden Bischöfe über die Auswahl nicht einigen konnten,
beschloß man (nach dem Synodikon des Pappus) die Aus-

Quellen des Chriſtenthums. XVII.
Organiſation ungleich ſchwerer und gefährlicher, als diejenigen
aller anderen Religionen.

Entwickelung des Chriſtenthums. Um die ungeheure
Bedeutung des Chriſtenthums für die ganze Kulturgeſchichte,
beſonders aber ſeinen principiellen Gegenſatz gegen Vernunft
und Wiſſenſchaft richtig zu würdigen, müſſen wir einen flüchtigen
Blick auf die wichtigſten Abſchnitte ſeiner geſchichtlichen Ent-
wickelung werfen. Wir unterſcheiden in derſelben vier Haupt-
perioden: I. das Urchriſtenthum (die drei erſten Jahr-
hunderte), II. den Papismus (zwölf Jahrhunderte, vom
vierten bis fünfzehnten), III. die Reformation (drei Jahr-
hunderte, vom ſechzehnten bis achtzehnten), IV. das moderne
Scheinchriſtenthum (im neunzehnten Jahrhundert).

I. Das Urchriſtenthum umfaßt die erſten drei Jahr-
hunderte. Chriſtus ſelbſt, der edle, ganz von Menſchenliebe er-
füllte Prophet und Schwärmer, ſtand tief unter dem Niveau
der klaſſiſchen Kulturbildung; er kannte nur jüdiſche Tradition; er
hat ſelbſt keine einzige Zeile hinterlaſſen. Auch hatte er von dem
hohen Zuſtande der Welterkenntniß, zu dem griechiſche Philoſophie
und Naturforſchung ſchon ein halbes Jahrtauſend früher ſich
erhoben hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und
von ſeiner urſprünglichen Lehre wiſſen, ſchöpfen wir aus den
wichtigſten Schriften des Neuen Teſtamentes, erſtens aus den
vier Evangelien und zweitens aus den pauliniſchen Briefen.
Von den vier kanoniſchen Evangelien wiſſen wir jetzt,
daß ſie im Jahre 327 auf dem Koncil zu Ricäa durch 318 ver-
ſammelte Biſchöfe aus einem Haufen von widerſprechenden und
gefälſchten Handſchriften der drei erſten Jahrhunderte ausgeſucht
wurden. Auf die weitere Wahlliſte kamen vierzig, auf die
engere vier Evangelien. Da ſich die ſtreitenden, boshaft ſich
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[360/0376] Quellen des Chriſtenthums. XVII. Organiſation ungleich ſchwerer und gefährlicher, als diejenigen aller anderen Religionen. Entwickelung des Chriſtenthums. Um die ungeheure Bedeutung des Chriſtenthums für die ganze Kulturgeſchichte, beſonders aber ſeinen principiellen Gegenſatz gegen Vernunft und Wiſſenſchaft richtig zu würdigen, müſſen wir einen flüchtigen Blick auf die wichtigſten Abſchnitte ſeiner geſchichtlichen Ent- wickelung werfen. Wir unterſcheiden in derſelben vier Haupt- perioden: I. das Urchriſtenthum (die drei erſten Jahr- hunderte), II. den Papismus (zwölf Jahrhunderte, vom vierten bis fünfzehnten), III. die Reformation (drei Jahr- hunderte, vom ſechzehnten bis achtzehnten), IV. das moderne Scheinchriſtenthum (im neunzehnten Jahrhundert). I. Das Urchriſtenthum umfaßt die erſten drei Jahr- hunderte. Chriſtus ſelbſt, der edle, ganz von Menſchenliebe er- füllte Prophet und Schwärmer, ſtand tief unter dem Niveau der klaſſiſchen Kulturbildung; er kannte nur jüdiſche Tradition; er hat ſelbſt keine einzige Zeile hinterlaſſen. Auch hatte er von dem hohen Zuſtande der Welterkenntniß, zu dem griechiſche Philoſophie und Naturforſchung ſchon ein halbes Jahrtauſend früher ſich erhoben hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und von ſeiner urſprünglichen Lehre wiſſen, ſchöpfen wir aus den wichtigſten Schriften des Neuen Teſtamentes, erſtens aus den vier Evangelien und zweitens aus den pauliniſchen Briefen. Von den vier kanoniſchen Evangelien wiſſen wir jetzt, daß ſie im Jahre 327 auf dem Koncil zu Ricäa durch 318 ver- ſammelte Biſchöfe aus einem Haufen von widerſprechenden und gefälſchten Handſchriften der drei erſten Jahrhunderte ausgeſucht wurden. Auf die weitere Wahlliſte kamen vierzig, auf die engere vier Evangelien. Da ſich die ſtreitenden, boshaft ſich ſchmähenden Biſchöfe über die Auswahl nicht einigen konnten, beſchloß man (nach dem Synodikon des Pappus) die Aus-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/376>, abgerufen am 23.11.2024.