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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Zu den hervorragenden Charakterzügen des scheidenden
19. Jahrhunderts gehört die wachsende Schärfe des Gegensatzes
zwischen Wissenschaft und Christenthum. Das ist ganz natürlich
und nothwendig: denn in demselben Maße, in welchem die
siegreichen Fortschritte der modernen Naturerkenntniß alle
wissenschaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln,
ist zugleich die Unhaltbarkeit aller jener mystischen Welt-
anschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das
Joch der sogenannten "Offenbarung" beugen wollten; und
dazu gehört auch die christliche Religion. Je sicherer durch die
moderne Astronomie, Physik und Chemie die Alleinherrschaft un-
beugsamer Naturgesetze im Universum, durch die moderne
Botanik, Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derselben
Gesetze im Gesammtbereiche der organischen Natur nachgewiesen
ist, desto heftiger sträubt sich die christliche Religion, im Vereine
mit der dualistischen Metaphysik, die Geltung dieser Naturgesetze
im Bereiche des sogenannten "Geisteslebens" anzuerkennen, d. h.
in einem Theilgebiete der Gehirn-Physiologie.

Diesen offenkundigen und unversöhnlichen Gegensatz zwischen
der modernen wissenschaftlichen und der überlebten christlichen
Weltanschauung hat Niemand klarer, muthiger und unwider-
leglicher bewiesen als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts,
David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntniß: "Der

Zu den hervorragenden Charakterzügen des ſcheidenden
19. Jahrhunderts gehört die wachſende Schärfe des Gegenſatzes
zwiſchen Wiſſenſchaft und Chriſtenthum. Das iſt ganz natürlich
und nothwendig: denn in demſelben Maße, in welchem die
ſiegreichen Fortſchritte der modernen Naturerkenntniß alle
wiſſenſchaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln,
iſt zugleich die Unhaltbarkeit aller jener myſtiſchen Welt-
anſchauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das
Joch der ſogenannten „Offenbarung“ beugen wollten; und
dazu gehört auch die chriſtliche Religion. Je ſicherer durch die
moderne Aſtronomie, Phyſik und Chemie die Alleinherrſchaft un-
beugſamer Naturgeſetze im Univerſum, durch die moderne
Botanik, Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derſelben
Geſetze im Geſammtbereiche der organiſchen Natur nachgewieſen
iſt, deſto heftiger ſträubt ſich die chriſtliche Religion, im Vereine
mit der dualiſtiſchen Metaphyſik, die Geltung dieſer Naturgeſetze
im Bereiche des ſogenannten „Geiſteslebens“ anzuerkennen, d. h.
in einem Theilgebiete der Gehirn-Phyſiologie.

Dieſen offenkundigen und unverſöhnlichen Gegenſatz zwiſchen
der modernen wiſſenſchaftlichen und der überlebten chriſtlichen
Weltanſchauung hat Niemand klarer, muthiger und unwider-
leglicher bewieſen als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts,
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[[357]/0373] Zu den hervorragenden Charakterzügen des ſcheidenden 19. Jahrhunderts gehört die wachſende Schärfe des Gegenſatzes zwiſchen Wiſſenſchaft und Chriſtenthum. Das iſt ganz natürlich und nothwendig: denn in demſelben Maße, in welchem die ſiegreichen Fortſchritte der modernen Naturerkenntniß alle wiſſenſchaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln, iſt zugleich die Unhaltbarkeit aller jener myſtiſchen Welt- anſchauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das Joch der ſogenannten „Offenbarung“ beugen wollten; und dazu gehört auch die chriſtliche Religion. Je ſicherer durch die moderne Aſtronomie, Phyſik und Chemie die Alleinherrſchaft un- beugſamer Naturgeſetze im Univerſum, durch die moderne Botanik, Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derſelben Geſetze im Geſammtbereiche der organiſchen Natur nachgewieſen iſt, deſto heftiger ſträubt ſich die chriſtliche Religion, im Vereine mit der dualiſtiſchen Metaphyſik, die Geltung dieſer Naturgeſetze im Bereiche des ſogenannten „Geiſteslebens“ anzuerkennen, d. h. in einem Theilgebiete der Gehirn-Phyſiologie. Dieſen offenkundigen und unverſöhnlichen Gegenſatz zwiſchen der modernen wiſſenſchaftlichen und der überlebten chriſtlichen Weltanſchauung hat Niemand klarer, muthiger und unwider- leglicher bewieſen als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts, David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntniß: „Der

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [357]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/373>, abgerufen am 28.11.2024.