Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.XVI. Aberglaube der Kulturvölker. Naturvölkern der niedersten Stufe und ist bereits von ihrenPrimaten-Ahnen durch Vererbung übertragen. Es besteht ebenso bei vielen anderen Wirbelthieren. Wenn ein Hund den Vollmond anbellt oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er sich bewegen sieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, so äußert er dabei nicht nur Furcht, sondern auch den dunkeln Drang nach Erkenntniß der Ursache dieser unbekannten Erscheinung. Die rohen Reli- gions-Anfänge der primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln theilweise in solchem erblichen Aberglauben ihrer Primaten-Ahnen, theilweise im Ahnen-Kultus, in verschiedenen Gemüths-Bedürf- nissen und in traditionell gewordenen Gewohnheiten. Aberglaube der Kulturvölker. Die religiösen Glaubens- Werfen wir von diesem unbefangenen Standpunkte einen XVI. Aberglaube der Kulturvölker. Naturvölkern der niederſten Stufe und iſt bereits von ihrenPrimaten-Ahnen durch Vererbung übertragen. Es beſteht ebenſo bei vielen anderen Wirbelthieren. Wenn ein Hund den Vollmond anbellt oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er ſich bewegen ſieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, ſo äußert er dabei nicht nur Furcht, ſondern auch den dunkeln Drang nach Erkenntniß der Urſache dieſer unbekannten Erſcheinung. Die rohen Reli- gions-Anfänge der primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln theilweiſe in ſolchem erblichen Aberglauben ihrer Primaten-Ahnen, theilweiſe im Ahnen-Kultus, in verſchiedenen Gemüths-Bedürf- niſſen und in traditionell gewordenen Gewohnheiten. Aberglaube der Kulturvölker. Die religiöſen Glaubens- Werfen wir von dieſem unbefangenen Standpunkte einen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0365" n="349"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XVI.</hi> Aberglaube der Kulturvölker.</fw><lb/> Naturvölkern der niederſten Stufe und iſt bereits von ihren<lb/> Primaten-Ahnen durch Vererbung übertragen. Es beſteht ebenſo<lb/> bei vielen anderen Wirbelthieren. Wenn ein Hund den Vollmond<lb/> anbellt oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er ſich bewegen<lb/> ſieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, ſo äußert er dabei<lb/> nicht nur Furcht, ſondern auch den dunkeln Drang nach Erkenntniß<lb/> der Urſache dieſer unbekannten Erſcheinung. Die rohen Reli-<lb/> gions-Anfänge der primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln<lb/> theilweiſe in ſolchem erblichen Aberglauben ihrer Primaten-Ahnen,<lb/> theilweiſe im Ahnen-Kultus, in verſchiedenen Gemüths-Bedürf-<lb/> niſſen und in traditionell gewordenen Gewohnheiten.</p><lb/> <p><hi rendition="#b">Aberglaube der Kulturvölker.</hi> Die religiöſen Glaubens-<lb/> Vorſtellungen der modernen Kulturvölker, die ihnen als höchſter<lb/> geiſtiger Beſitz gelten, pflegen von ihnen hoch über den „rohen<lb/> Aberglauben“ der Naturvölker geſtellt zu werden; man preiſt den<lb/> großen Fortſchritt, welchen die fortſchreitende Kultur durch Be-<lb/> ſeitigung des letzteren herbeigeführt habe. Das iſt ein großer<lb/> Irrthum! Bei unbefangener kritiſcher Prüfung und Vergleichung<lb/> zeigt ſich, daß beide nur durch die beſondere „Geſtalt des<lb/> Glaubens“ und durch die äußere Hülle der Konfeſſion von<lb/> einander verſchieden ſind. Im klaren Lichte der <hi rendition="#g">Vernunft</hi><lb/> erſcheint der deſtillirte Wunderglaube der freiſinnigſten Kirchen-<lb/> Religionen — inſofern er klar erkannten und feſten Naturgeſetzen<lb/> widerſpricht — genau ſo als unvernünftiger Aberglaube wie der<lb/> rohe Geſpenſterglaube der primitiven Fetiſch-Religionen, auf<lb/> welchen jene mit ſtolzer Verachtung herabſehen.</p><lb/> <p>Werfen wir von dieſem unbefangenen Standpunkte einen<lb/> kritiſchen Blick auf die gegenwärtig noch herrſchenden Glaubens-<lb/> Vorſtellungen der heutigen Kulturvölker, ſo finden wir ſie allent-<lb/> halben von traditionellem Aberglauben durchdrungen. Der chriſt-<lb/> liche Glaube an die Schöpfung, die Dreieinigkeit Gottes, an<lb/> die unbefleckte Empfängniß Mariä, an die Erlöſung, die Auf-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [349/0365]
XVI. Aberglaube der Kulturvölker.
Naturvölkern der niederſten Stufe und iſt bereits von ihren
Primaten-Ahnen durch Vererbung übertragen. Es beſteht ebenſo
bei vielen anderen Wirbelthieren. Wenn ein Hund den Vollmond
anbellt oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er ſich bewegen
ſieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, ſo äußert er dabei
nicht nur Furcht, ſondern auch den dunkeln Drang nach Erkenntniß
der Urſache dieſer unbekannten Erſcheinung. Die rohen Reli-
gions-Anfänge der primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln
theilweiſe in ſolchem erblichen Aberglauben ihrer Primaten-Ahnen,
theilweiſe im Ahnen-Kultus, in verſchiedenen Gemüths-Bedürf-
niſſen und in traditionell gewordenen Gewohnheiten.
Aberglaube der Kulturvölker. Die religiöſen Glaubens-
Vorſtellungen der modernen Kulturvölker, die ihnen als höchſter
geiſtiger Beſitz gelten, pflegen von ihnen hoch über den „rohen
Aberglauben“ der Naturvölker geſtellt zu werden; man preiſt den
großen Fortſchritt, welchen die fortſchreitende Kultur durch Be-
ſeitigung des letzteren herbeigeführt habe. Das iſt ein großer
Irrthum! Bei unbefangener kritiſcher Prüfung und Vergleichung
zeigt ſich, daß beide nur durch die beſondere „Geſtalt des
Glaubens“ und durch die äußere Hülle der Konfeſſion von
einander verſchieden ſind. Im klaren Lichte der Vernunft
erſcheint der deſtillirte Wunderglaube der freiſinnigſten Kirchen-
Religionen — inſofern er klar erkannten und feſten Naturgeſetzen
widerſpricht — genau ſo als unvernünftiger Aberglaube wie der
rohe Geſpenſterglaube der primitiven Fetiſch-Religionen, auf
welchen jene mit ſtolzer Verachtung herabſehen.
Werfen wir von dieſem unbefangenen Standpunkte einen
kritiſchen Blick auf die gegenwärtig noch herrſchenden Glaubens-
Vorſtellungen der heutigen Kulturvölker, ſo finden wir ſie allent-
halben von traditionellem Aberglauben durchdrungen. Der chriſt-
liche Glaube an die Schöpfung, die Dreieinigkeit Gottes, an
die unbefleckte Empfängniß Mariä, an die Erlöſung, die Auf-
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