Specifische Energie der Sensillen. Von größter Bedeutung für die menschliche Erkenntniß ist die Thatsache, daß verschiedene Nerven unseres Körpers im Stande sind, ganz verschiedene Quali- täten der Außenwelt und nur diese wahrzunehmen. Der Sehnerv des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres nur Schallempfindung, der Riechnerv der Nase nur Geruchs- empfindung u. s. w. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinnes- werkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieselbe Qualität. Aus dieser specifischen Energie der Sinnes- nerven, welche von dem großen Physiologen Johannes Müller zuerst in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, sind sehr irrthümliche Schlüsse gezogen worden, besonders zu Gunsten einer dualistischen und apriorischen Erkenntniß-Theorie. Man behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewissen Zustand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus Nichts auf die Existenz und Beschaffenheit der erregenden Außenwelt geschlossen werden könne. Die skeptische Philosophie zog daraus den Schluß, daß diese letztere selbst zweifelhaft sei, und der extreme Idealismus bezweifelte nicht nur diese Realität, sondern er negirte sie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unserer Vorstellung existire.
Diesen Irrthümern gegenüber müssen wir daran erinnern, daß die "specifische Energie" ursprünglich nicht eine anerschaffene besondere Qualität einzelner Nerven, sondern durch Anpassung an die besondere Thätigkeit der Oberhautzellen entstanden ist, in welchen sie enden. Nach den großen Gesetzen der Arbeitstheilung nahmen die ursprünglich indifferenten "Hautsinneszellen" verschiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der Lichtstrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine dritte Gruppe die chemische Einwirkung riechender Substanzen u. s. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten diese äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der
XVI. Entwickelung der Sinnesorgane.
Specifiſche Energie der Senſillen. Von größter Bedeutung für die menſchliche Erkenntniß iſt die Thatſache, daß verſchiedene Nerven unſeres Körpers im Stande ſind, ganz verſchiedene Quali- täten der Außenwelt und nur dieſe wahrzunehmen. Der Sehnerv des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres nur Schallempfindung, der Riechnerv der Naſe nur Geruchs- empfindung u. ſ. w. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinnes- werkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieſelbe Qualität. Aus dieſer ſpecifiſchen Energie der Sinnes- nerven, welche von dem großen Phyſiologen Johannes Müller zuerſt in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, ſind ſehr irrthümliche Schlüſſe gezogen worden, beſonders zu Gunſten einer dualiſtiſchen und aprioriſchen Erkenntniß-Theorie. Man behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewiſſen Zuſtand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus Nichts auf die Exiſtenz und Beſchaffenheit der erregenden Außenwelt geſchloſſen werden könne. Die ſkeptiſche Philoſophie zog daraus den Schluß, daß dieſe letztere ſelbſt zweifelhaft ſei, und der extreme Idealismus bezweifelte nicht nur dieſe Realität, ſondern er negirte ſie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unſerer Vorſtellung exiſtire.
Dieſen Irrthümern gegenüber müſſen wir daran erinnern, daß die „ſpecifiſche Energie“ urſprünglich nicht eine anerſchaffene beſondere Qualität einzelner Nerven, ſondern durch Anpaſſung an die beſondere Thätigkeit der Oberhautzellen entſtanden iſt, in welchen ſie enden. Nach den großen Geſetzen der Arbeitstheilung nahmen die urſprünglich indifferenten „Hautſinneszellen“ verſchiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der Lichtſtrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine dritte Gruppe die chemiſche Einwirkung riechender Subſtanzen u. ſ. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten dieſe äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0357"n="341"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">XVI.</hi> Entwickelung der Sinnesorgane.</fw><lb/><p><hirendition="#b">Specifiſche Energie der Senſillen.</hi> Von größter Bedeutung<lb/>
für die menſchliche Erkenntniß iſt die Thatſache, daß verſchiedene<lb/>
Nerven unſeres Körpers im Stande ſind, ganz verſchiedene Quali-<lb/>
täten der Außenwelt und nur dieſe wahrzunehmen. Der Sehnerv<lb/>
des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres<lb/>
nur Schallempfindung, der Riechnerv der Naſe nur Geruchs-<lb/>
empfindung u. ſ. w. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinnes-<lb/>
werkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieſelbe<lb/>
Qualität. Aus dieſer <hirendition="#g">ſpecifiſchen Energie</hi> der Sinnes-<lb/>
nerven, welche von dem großen Phyſiologen <hirendition="#g">Johannes Müller</hi><lb/>
zuerſt in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, ſind<lb/>ſehr irrthümliche Schlüſſe gezogen worden, beſonders zu Gunſten<lb/>
einer dualiſtiſchen und aprioriſchen Erkenntniß-Theorie. Man<lb/>
behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewiſſen<lb/>
Zuſtand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus Nichts<lb/>
auf die Exiſtenz und Beſchaffenheit der erregenden Außenwelt<lb/>
geſchloſſen werden könne. Die ſkeptiſche Philoſophie zog daraus<lb/>
den Schluß, daß dieſe letztere ſelbſt zweifelhaft ſei, und der<lb/>
extreme Idealismus bezweifelte nicht nur dieſe Realität, ſondern<lb/>
er negirte ſie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unſerer<lb/>
Vorſtellung exiſtire.</p><lb/><p>Dieſen Irrthümern gegenüber müſſen wir daran erinnern,<lb/>
daß die „ſpecifiſche Energie“ urſprünglich nicht eine anerſchaffene<lb/>
beſondere Qualität einzelner Nerven, ſondern durch <hirendition="#g">Anpaſſung</hi><lb/>
an die beſondere Thätigkeit der Oberhautzellen entſtanden iſt, in<lb/>
welchen ſie enden. Nach den großen Geſetzen der Arbeitstheilung<lb/>
nahmen die urſprünglich indifferenten „<hirendition="#g">Hautſinneszellen</hi>“<lb/>
verſchiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der<lb/>
Lichtſtrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine<lb/>
dritte Gruppe die chemiſche Einwirkung riechender Subſtanzen<lb/>
u. ſ. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten<lb/>
dieſe äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[341/0357]
XVI. Entwickelung der Sinnesorgane.
Specifiſche Energie der Senſillen. Von größter Bedeutung
für die menſchliche Erkenntniß iſt die Thatſache, daß verſchiedene
Nerven unſeres Körpers im Stande ſind, ganz verſchiedene Quali-
täten der Außenwelt und nur dieſe wahrzunehmen. Der Sehnerv
des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres
nur Schallempfindung, der Riechnerv der Naſe nur Geruchs-
empfindung u. ſ. w. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinnes-
werkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieſelbe
Qualität. Aus dieſer ſpecifiſchen Energie der Sinnes-
nerven, welche von dem großen Phyſiologen Johannes Müller
zuerſt in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, ſind
ſehr irrthümliche Schlüſſe gezogen worden, beſonders zu Gunſten
einer dualiſtiſchen und aprioriſchen Erkenntniß-Theorie. Man
behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewiſſen
Zuſtand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus Nichts
auf die Exiſtenz und Beſchaffenheit der erregenden Außenwelt
geſchloſſen werden könne. Die ſkeptiſche Philoſophie zog daraus
den Schluß, daß dieſe letztere ſelbſt zweifelhaft ſei, und der
extreme Idealismus bezweifelte nicht nur dieſe Realität, ſondern
er negirte ſie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unſerer
Vorſtellung exiſtire.
Dieſen Irrthümern gegenüber müſſen wir daran erinnern,
daß die „ſpecifiſche Energie“ urſprünglich nicht eine anerſchaffene
beſondere Qualität einzelner Nerven, ſondern durch Anpaſſung
an die beſondere Thätigkeit der Oberhautzellen entſtanden iſt, in
welchen ſie enden. Nach den großen Geſetzen der Arbeitstheilung
nahmen die urſprünglich indifferenten „Hautſinneszellen“
verſchiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der
Lichtſtrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine
dritte Gruppe die chemiſche Einwirkung riechender Subſtanzen
u. ſ. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten
dieſe äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/357>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.