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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XV. Naturalistischer Monotheismus.
scheint für den modernen Naturforscher wohl unter allen theistischen
Glaubens-Formen als die würdigste und als diejenige, welche
am leichtesten mit der monistischen Naturphilosophie der Gegen-
wart sich verschmelzen läßt. Denn unsere moderne Astrophysik
und Geogenie hat uns überzeugt, daß die Erde ein abgelöster
Theil der Sonne ist und später wieder in deren Schooß zurück-
kehren wird. Die moderne Physiologie lehrt uns, daß der erste
Urquell des organischen Lebens auf der Erde die Plasma-Bildung
oder Plasmodomie, ist und daß diese Synthese von einfachen
anorganischen Verbindungen, von Wasser, Kohlensäure und
Ammoniak (oder Salpetersäure), nur unter dem Einflusse des
Sonnenlichtes erfolgt. Auf die primäre Entwickelung der
plasmodomen Pflanzen ist erst nachträglich, sekundär, die-
jenige der plasmophagen Thiere gefolgt, die sich direkt
oder indirekt von ihnen nähren; und die Entstehung des Menschen-
geschlechtes selbst ist wiederum nur ein späterer Vorgang in
der Stammesgeschichte des Thierreichs. Auch unser gesammtes
körperliches und geistiges Menschen-Leben ist ebenso wie alles
andere organische Leben im letzten Grunde auf die strahlende,
Licht und Wärme spendende Sonne zurückzuführen. Im Lichte
der reinen Vernunft betrachtet, erscheint daher der Sonnen-
Kultus
als naturalistischer Monotheismus weit besser
begründet als der anthropistische Gottesdienst der Christen und
anderer Kulturvölker, welche Gott in Menschengestalt sich vor-
stellen. Thatsächlich haben auch schon vor Jahrtausenden die
Sonnen-Anbeter sich auf eine höhere intellektuelle und moralische
Bildungsstufe erhoben als die meisten anderen Theisten. Als
ich im November 1881 in Bombay war, betrachtete ich mit der
größten Theilnahme die erhebenden Andachts-Uebungen der
frommen Parsi, welche beim Aufgang und Untergang der Sonne,
am Meeresstrande stehend oder auf ausgebreitetem Teppich knieend,
dem kommenden und scheidenden Tagesgestirn ihre Verehrung

XV. Naturaliſtiſcher Monotheismus.
ſcheint für den modernen Naturforſcher wohl unter allen theiſtiſchen
Glaubens-Formen als die würdigſte und als diejenige, welche
am leichteſten mit der moniſtiſchen Naturphiloſophie der Gegen-
wart ſich verſchmelzen läßt. Denn unſere moderne Aſtrophyſik
und Geogenie hat uns überzeugt, daß die Erde ein abgelöſter
Theil der Sonne iſt und ſpäter wieder in deren Schooß zurück-
kehren wird. Die moderne Phyſiologie lehrt uns, daß der erſte
Urquell des organiſchen Lebens auf der Erde die Plasma-Bildung
oder Plasmodomie, iſt und daß dieſe Syntheſe von einfachen
anorganiſchen Verbindungen, von Waſſer, Kohlenſäure und
Ammoniak (oder Salpeterſäure), nur unter dem Einfluſſe des
Sonnenlichtes erfolgt. Auf die primäre Entwickelung der
plasmodomen Pflanzen iſt erſt nachträglich, ſekundär, die-
jenige der plasmophagen Thiere gefolgt, die ſich direkt
oder indirekt von ihnen nähren; und die Entſtehung des Menſchen-
geſchlechtes ſelbſt iſt wiederum nur ein ſpäterer Vorgang in
der Stammesgeſchichte des Thierreichs. Auch unſer geſammtes
körperliches und geiſtiges Menſchen-Leben iſt ebenſo wie alles
andere organiſche Leben im letzten Grunde auf die ſtrahlende,
Licht und Wärme ſpendende Sonne zurückzuführen. Im Lichte
der reinen Vernunft betrachtet, erſcheint daher der Sonnen-
Kultus
als naturaliſtiſcher Monotheismus weit beſſer
begründet als der anthropiſtiſche Gottesdienſt der Chriſten und
anderer Kulturvölker, welche Gott in Menſchengeſtalt ſich vor-
ſtellen. Thatſächlich haben auch ſchon vor Jahrtauſenden die
Sonnen-Anbeter ſich auf eine höhere intellektuelle und moraliſche
Bildungsſtufe erhoben als die meiſten anderen Theiſten. Als
ich im November 1881 in Bombay war, betrachtete ich mit der
größten Theilnahme die erhebenden Andachts-Uebungen der
frommen Parſi, welche beim Aufgang und Untergang der Sonne,
am Meeresſtrande ſtehend oder auf ausgebreitetem Teppich knieend,
dem kommenden und ſcheidenden Tagesgeſtirn ihre Verehrung

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[325/0341] XV. Naturaliſtiſcher Monotheismus. ſcheint für den modernen Naturforſcher wohl unter allen theiſtiſchen Glaubens-Formen als die würdigſte und als diejenige, welche am leichteſten mit der moniſtiſchen Naturphiloſophie der Gegen- wart ſich verſchmelzen läßt. Denn unſere moderne Aſtrophyſik und Geogenie hat uns überzeugt, daß die Erde ein abgelöſter Theil der Sonne iſt und ſpäter wieder in deren Schooß zurück- kehren wird. Die moderne Phyſiologie lehrt uns, daß der erſte Urquell des organiſchen Lebens auf der Erde die Plasma-Bildung oder Plasmodomie, iſt und daß dieſe Syntheſe von einfachen anorganiſchen Verbindungen, von Waſſer, Kohlenſäure und Ammoniak (oder Salpeterſäure), nur unter dem Einfluſſe des Sonnenlichtes erfolgt. Auf die primäre Entwickelung der plasmodomen Pflanzen iſt erſt nachträglich, ſekundär, die- jenige der plasmophagen Thiere gefolgt, die ſich direkt oder indirekt von ihnen nähren; und die Entſtehung des Menſchen- geſchlechtes ſelbſt iſt wiederum nur ein ſpäterer Vorgang in der Stammesgeſchichte des Thierreichs. Auch unſer geſammtes körperliches und geiſtiges Menſchen-Leben iſt ebenſo wie alles andere organiſche Leben im letzten Grunde auf die ſtrahlende, Licht und Wärme ſpendende Sonne zurückzuführen. Im Lichte der reinen Vernunft betrachtet, erſcheint daher der Sonnen- Kultus als naturaliſtiſcher Monotheismus weit beſſer begründet als der anthropiſtiſche Gottesdienſt der Chriſten und anderer Kulturvölker, welche Gott in Menſchengeſtalt ſich vor- ſtellen. Thatſächlich haben auch ſchon vor Jahrtauſenden die Sonnen-Anbeter ſich auf eine höhere intellektuelle und moraliſche Bildungsſtufe erhoben als die meiſten anderen Theiſten. Als ich im November 1881 in Bombay war, betrachtete ich mit der größten Theilnahme die erhebenden Andachts-Uebungen der frommen Parſi, welche beim Aufgang und Untergang der Sonne, am Meeresſtrande ſtehend oder auf ausgebreitetem Teppich knieend, dem kommenden und ſcheidenden Tagesgeſtirn ihre Verehrung

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/341>, abgerufen am 25.11.2024.