millionenfach sich kreuzenden Gebete und "frommen Wünsche" derselben jederzeit berücksichtigt, ist vollkommen unhaltbar; das ergibt sich sofort, wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber die farbige Brille des "Glaubens" ablegt.
Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenschen -- ge- rade so wie beim ungebildeten Wilden -- der Glauben an die Vorsehung und die Zuversicht zum liebenden Vater dann sich lebhaft einzustellen, wenn ihm irgend etwas Glückliches begegnet ist: Errettung aus Lebensgefahr, Heilung von schwerer Krank- heit, Gewinn des großen Looses in der Lotterie, Geburt eines lang ersehnten Kindes u. s. w. Wenn dagegen irgend ein Un- glück passirt oder ein heißer Wunsch nicht erfüllt wird, so ist die "Vorsehung" vergessen; der weise Weltregent hat dann geschlafen oder seinen Segen verweigert.
Bei dem ungeheuren Aufschwung des Verkehrs in unserem 19. Jahrhundert hat nothwendig die Zahl der Verbrechen und Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen; das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem Jahre gehen Tausende von Menschen zu Grunde durch Schiff- brüche, Tausende durch Eisenbahn-Unglücke, Tausende durch Bergwerks-Katastrophen u. s. w. Viele Tausende tödten sich alle Jahre gegenseitig im Kriege, und die Zurüstung für diesen Massenmord nimmt bei den höchstentwickelten, die christliche Liebe bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten Theil des National-Vermögens in Anspruch. Und unter jenen Hundert- tausenden, die alljährlich als Opfer der modernen Civilisation fallen, befinden sich überwiegend tüchtige, thatkräftige, arbeitsame Menschen. Dabei redet man noch von sittlicher Weltordnung!
Ziel, Zweck und Zufall. Wenn uns unbefangene Prüfung der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein bestimmtes Ziel noch ein besonderer Zweck (im Sinne der menschlichen Vernunft!) nachzuweisen ist, so scheint nichts übrig zu bleiben als Alles
XIV. Schickſal und Vorſehung.
millionenfach ſich kreuzenden Gebete und „frommen Wünſche“ derſelben jederzeit berückſichtigt, iſt vollkommen unhaltbar; das ergibt ſich ſofort, wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber die farbige Brille des „Glaubens“ ablegt.
Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenſchen — ge- rade ſo wie beim ungebildeten Wilden — der Glauben an die Vorſehung und die Zuverſicht zum liebenden Vater dann ſich lebhaft einzuſtellen, wenn ihm irgend etwas Glückliches begegnet iſt: Errettung aus Lebensgefahr, Heilung von ſchwerer Krank- heit, Gewinn des großen Looſes in der Lotterie, Geburt eines lang erſehnten Kindes u. ſ. w. Wenn dagegen irgend ein Un- glück paſſirt oder ein heißer Wunſch nicht erfüllt wird, ſo iſt die „Vorſehung“ vergeſſen; der weiſe Weltregent hat dann geſchlafen oder ſeinen Segen verweigert.
Bei dem ungeheuren Aufſchwung des Verkehrs in unſerem 19. Jahrhundert hat nothwendig die Zahl der Verbrechen und Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen; das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem Jahre gehen Tauſende von Menſchen zu Grunde durch Schiff- brüche, Tauſende durch Eiſenbahn-Unglücke, Tauſende durch Bergwerks-Kataſtrophen u. ſ. w. Viele Tauſende tödten ſich alle Jahre gegenſeitig im Kriege, und die Zurüſtung für dieſen Maſſenmord nimmt bei den höchſtentwickelten, die chriſtliche Liebe bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten Theil des National-Vermögens in Anſpruch. Und unter jenen Hundert- tauſenden, die alljährlich als Opfer der modernen Civiliſation fallen, befinden ſich überwiegend tüchtige, thatkräftige, arbeitſame Menſchen. Dabei redet man noch von ſittlicher Weltordnung!
Ziel, Zweck und Zufall. Wenn uns unbefangene Prüfung der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein beſtimmtes Ziel noch ein beſonderer Zweck (im Sinne der menſchlichen Vernunft!) nachzuweiſen iſt, ſo ſcheint nichts übrig zu bleiben als Alles
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0331"n="315"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Schickſal und Vorſehung.</fw><lb/>
millionenfach ſich kreuzenden Gebete und „frommen Wünſche“<lb/>
derſelben jederzeit berückſichtigt, iſt vollkommen unhaltbar; das<lb/>
ergibt ſich ſofort, wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber<lb/>
die farbige Brille des „Glaubens“ ablegt.</p><lb/><p>Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenſchen — ge-<lb/>
rade ſo wie beim ungebildeten Wilden — der Glauben an die<lb/>
Vorſehung und die Zuverſicht zum liebenden Vater dann ſich<lb/>
lebhaft einzuſtellen, wenn ihm irgend etwas Glückliches begegnet<lb/>
iſt: Errettung aus Lebensgefahr, Heilung von ſchwerer Krank-<lb/>
heit, Gewinn des großen Looſes in der Lotterie, Geburt eines<lb/>
lang erſehnten Kindes u. ſ. w. Wenn dagegen irgend ein Un-<lb/>
glück paſſirt oder ein heißer Wunſch nicht erfüllt wird, ſo iſt die<lb/>„Vorſehung“ vergeſſen; der weiſe Weltregent hat dann geſchlafen<lb/>
oder ſeinen Segen verweigert.</p><lb/><p>Bei dem ungeheuren Aufſchwung des Verkehrs in unſerem<lb/>
19. Jahrhundert hat nothwendig die Zahl der Verbrechen und<lb/>
Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen;<lb/>
das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem<lb/>
Jahre gehen Tauſende von Menſchen zu Grunde durch Schiff-<lb/>
brüche, Tauſende durch Eiſenbahn-Unglücke, Tauſende durch<lb/>
Bergwerks-Kataſtrophen u. ſ. w. Viele Tauſende tödten ſich alle<lb/>
Jahre gegenſeitig im Kriege, und die Zurüſtung für dieſen<lb/>
Maſſenmord nimmt bei den höchſtentwickelten, die chriſtliche Liebe<lb/>
bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten Theil des<lb/>
National-Vermögens in Anſpruch. Und unter jenen Hundert-<lb/>
tauſenden, die alljährlich als Opfer der modernen Civiliſation<lb/>
fallen, befinden ſich überwiegend tüchtige, thatkräftige, arbeitſame<lb/>
Menſchen. Dabei redet man noch von ſittlicher Weltordnung!</p><lb/><p><hirendition="#b">Ziel, Zweck und Zufall.</hi> Wenn uns unbefangene Prüfung<lb/>
der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein beſtimmtes Ziel<lb/>
noch ein beſonderer Zweck (im Sinne der menſchlichen Vernunft!)<lb/>
nachzuweiſen iſt, ſo ſcheint nichts übrig zu bleiben als Alles<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[315/0331]
XIV. Schickſal und Vorſehung.
millionenfach ſich kreuzenden Gebete und „frommen Wünſche“
derſelben jederzeit berückſichtigt, iſt vollkommen unhaltbar; das
ergibt ſich ſofort, wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber
die farbige Brille des „Glaubens“ ablegt.
Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenſchen — ge-
rade ſo wie beim ungebildeten Wilden — der Glauben an die
Vorſehung und die Zuverſicht zum liebenden Vater dann ſich
lebhaft einzuſtellen, wenn ihm irgend etwas Glückliches begegnet
iſt: Errettung aus Lebensgefahr, Heilung von ſchwerer Krank-
heit, Gewinn des großen Looſes in der Lotterie, Geburt eines
lang erſehnten Kindes u. ſ. w. Wenn dagegen irgend ein Un-
glück paſſirt oder ein heißer Wunſch nicht erfüllt wird, ſo iſt die
„Vorſehung“ vergeſſen; der weiſe Weltregent hat dann geſchlafen
oder ſeinen Segen verweigert.
Bei dem ungeheuren Aufſchwung des Verkehrs in unſerem
19. Jahrhundert hat nothwendig die Zahl der Verbrechen und
Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen;
das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem
Jahre gehen Tauſende von Menſchen zu Grunde durch Schiff-
brüche, Tauſende durch Eiſenbahn-Unglücke, Tauſende durch
Bergwerks-Kataſtrophen u. ſ. w. Viele Tauſende tödten ſich alle
Jahre gegenſeitig im Kriege, und die Zurüſtung für dieſen
Maſſenmord nimmt bei den höchſtentwickelten, die chriſtliche Liebe
bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten Theil des
National-Vermögens in Anſpruch. Und unter jenen Hundert-
tauſenden, die alljährlich als Opfer der modernen Civiliſation
fallen, befinden ſich überwiegend tüchtige, thatkräftige, arbeitſame
Menſchen. Dabei redet man noch von ſittlicher Weltordnung!
Ziel, Zweck und Zufall. Wenn uns unbefangene Prüfung
der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein beſtimmtes Ziel
noch ein beſonderer Zweck (im Sinne der menſchlichen Vernunft!)
nachzuweiſen iſt, ſo ſcheint nichts übrig zu bleiben als Alles
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/331>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.