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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Schicksal und Vorsehung. XIV.

Genau dasselbe gilt von der Völkergeschichte. Die
bewunderungswürdige Kultur des klassischen Alterthums ist zu
Grunde gegangen, weil das Christenthum dem ringenden
Menschengeiste damals durch den Glauben an einen liebenden
Gott und die Hoffnung auf ein besseres jenseitiges Leben einen
gewaltigen neuen Aufschwung verlieh. Der Papismus wurde
zwar bald zur schamlosen Karikatur des reinen Christenthums
und zertrat schonungslos die Schätze der Erkenntniß, welche die
hellenische Philosophie schon erworben hatte; aber er gewann die
Weltherrschaft durch die Unwissenheit der blind-gläubigen
Massen. Erst die Reformation zerriß die Ketten dieser Geistes-
Knechtschaft und verhalf wieder den Ansprüchen der Vernunft zu
ihrem Rechte. Aber auch in dieser neuen, wie in jenen früheren
Perioden der Kulturgeschichte, wogt ewig der große Kampf um's
Dasein hin und her, ohne jede moralische Ordnung.

Vorsehung. So wenig bei unbefangener und kritischer
Betrachtung eine "moralische Weltordnung" im Gange der
Völkergeschichte nachzuweisen ist, ebenso wenig können wir eine
"weise Vorsehung" im Schicksal der einzelnen Menschen an-
erkennen. Dieses wie jener wird mit eiserner Nothwendigkeit
durch die mechanische Kausalität bestimmt, welche jede Erscheinung
aus einer oder mehreren vorhergehenden Ursachen ableitet.
Schon die alten Hellenen erkannten als höchstes Weltprincip die
Ananke, die blinde Heimarmene, das Fatum, das
"Götter und Menschen beherrscht". An ihre Stelle trat im
Christenthum die bewußte Vorsehung, welche nicht blind, sondern
sehend ist, und welche die Weltregierung als patriarchalischer
Herrscher führt. Der anthropomorphe Charakter dieser Vor-
stellung, die sich gewöhnlich mit derjenigen des "persönlichen
Gottes" eng verknüpft, liegt auf der Hand. Der Glaube an
einen "liebenden Vater", der die Geschicke von 1500 Millionen
Menschen auf unserem Planeten unablässig lenkt und dabei die

Schickſal und Vorſehung. XIV.

Genau dasſelbe gilt von der Völkergeſchichte. Die
bewunderungswürdige Kultur des klaſſiſchen Alterthums iſt zu
Grunde gegangen, weil das Chriſtenthum dem ringenden
Menſchengeiſte damals durch den Glauben an einen liebenden
Gott und die Hoffnung auf ein beſſeres jenſeitiges Leben einen
gewaltigen neuen Aufſchwung verlieh. Der Papismus wurde
zwar bald zur ſchamloſen Karikatur des reinen Chriſtenthums
und zertrat ſchonungslos die Schätze der Erkenntniß, welche die
helleniſche Philoſophie ſchon erworben hatte; aber er gewann die
Weltherrſchaft durch die Unwiſſenheit der blind-gläubigen
Maſſen. Erſt die Reformation zerriß die Ketten dieſer Geiſtes-
Knechtſchaft und verhalf wieder den Anſprüchen der Vernunft zu
ihrem Rechte. Aber auch in dieſer neuen, wie in jenen früheren
Perioden der Kulturgeſchichte, wogt ewig der große Kampf um's
Daſein hin und her, ohne jede moraliſche Ordnung.

Vorſehung. So wenig bei unbefangener und kritiſcher
Betrachtung eine „moraliſche Weltordnung“ im Gange der
Völkergeſchichte nachzuweiſen iſt, ebenſo wenig können wir eine
„weiſe Vorſehung“ im Schickſal der einzelnen Menſchen an-
erkennen. Dieſes wie jener wird mit eiſerner Nothwendigkeit
durch die mechaniſche Kauſalität beſtimmt, welche jede Erſcheinung
aus einer oder mehreren vorhergehenden Urſachen ableitet.
Schon die alten Hellenen erkannten als höchſtes Weltprincip die
Ananke, die blinde Heimarmene, das Fatum, das
„Götter und Menſchen beherrſcht“. An ihre Stelle trat im
Chriſtenthum die bewußte Vorſehung, welche nicht blind, ſondern
ſehend iſt, und welche die Weltregierung als patriarchaliſcher
Herrſcher führt. Der anthropomorphe Charakter dieſer Vor-
ſtellung, die ſich gewöhnlich mit derjenigen des „perſönlichen
Gottes“ eng verknüpft, liegt auf der Hand. Der Glaube an
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[314/0330] Schickſal und Vorſehung. XIV. Genau dasſelbe gilt von der Völkergeſchichte. Die bewunderungswürdige Kultur des klaſſiſchen Alterthums iſt zu Grunde gegangen, weil das Chriſtenthum dem ringenden Menſchengeiſte damals durch den Glauben an einen liebenden Gott und die Hoffnung auf ein beſſeres jenſeitiges Leben einen gewaltigen neuen Aufſchwung verlieh. Der Papismus wurde zwar bald zur ſchamloſen Karikatur des reinen Chriſtenthums und zertrat ſchonungslos die Schätze der Erkenntniß, welche die helleniſche Philoſophie ſchon erworben hatte; aber er gewann die Weltherrſchaft durch die Unwiſſenheit der blind-gläubigen Maſſen. Erſt die Reformation zerriß die Ketten dieſer Geiſtes- Knechtſchaft und verhalf wieder den Anſprüchen der Vernunft zu ihrem Rechte. Aber auch in dieſer neuen, wie in jenen früheren Perioden der Kulturgeſchichte, wogt ewig der große Kampf um's Daſein hin und her, ohne jede moraliſche Ordnung. Vorſehung. So wenig bei unbefangener und kritiſcher Betrachtung eine „moraliſche Weltordnung“ im Gange der Völkergeſchichte nachzuweiſen iſt, ebenſo wenig können wir eine „weiſe Vorſehung“ im Schickſal der einzelnen Menſchen an- erkennen. Dieſes wie jener wird mit eiſerner Nothwendigkeit durch die mechaniſche Kauſalität beſtimmt, welche jede Erſcheinung aus einer oder mehreren vorhergehenden Urſachen ableitet. Schon die alten Hellenen erkannten als höchſtes Weltprincip die Ananke, die blinde Heimarmene, das Fatum, das „Götter und Menſchen beherrſcht“. An ihre Stelle trat im Chriſtenthum die bewußte Vorſehung, welche nicht blind, ſondern ſehend iſt, und welche die Weltregierung als patriarchaliſcher Herrſcher führt. Der anthropomorphe Charakter dieſer Vor- ſtellung, die ſich gewöhnlich mit derjenigen des „perſönlichen Gottes“ eng verknüpft, liegt auf der Hand. Der Glaube an einen „liebenden Vater“, der die Geſchicke von 1500 Millionen Menſchen auf unſerem Planeten unabläſſig lenkt und dabei die

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/330>, abgerufen am 22.11.2024.