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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Zweckbegriff der Lebenskraft. XIV.
selbst zeigte in einer langen Reihe von ausgezeichneten Be-
obachtungen und scharfsinnigen Experimenten, daß die meisten
Lebensthätigkeiten im Organismus des Menschen ebenso wie der
übrigen Thiere nach physikalischen und chemischen Gesetzen ge-
schehen, daß viele von ihnen sogar mathematisch bestimmbar sind.
Das gilt ebenso wohl von den animalen Funktionen der Muskeln
und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von
den vegetalen Vorgängen bei der Ernährung und dem Stoffwechsel,
der Verdauung und dem Blutkreislauf. Räthselhaft und ohne
die Annahme einer Lebenskraft nicht erklärbar blieben eigentlich
nur zwei Gebiete, das der höheren Seelenthätigkeit (Geistesleben)
und das der Fortpflanzung (Zeugung). Aber auch auf diesen
Gebieten wurden unmittelbar nach Müller's Tode solche ge-
waltige Entdeckungen und Fortschritte gemacht, daß das unheim-
liche "Gespenst der Lebenskraft" auch aus diesen letzten Schlupf-
winkeln verschwand. Es war gewiß ein merkwürdiger chrono-
logischer Zufall, daß Johannes Müller 1858 in demselben
Jahre starb, in welchem Charles Darwin die ersten Mit-
theilungen über seine epochemachende Theorie veröffentlichte.
Die Selektions-Theorie des Letzteren beantwortete das
große Räthsel, vor welchem der Erstere stehen geblieben war: die
Frage von der Entstehung zweckmäßiger Einrichtungen durch rein
mechanische Ursachen.

Der Zweck in der Selektions-Theorie (Darwin 1859).
Das unsterbliche philosophische Verdienst Darwin's bleibt, wie
wir schon oft betont haben, ein doppeltes: erstens die Reform
der älteren, 1809 von Lamarck begründeten Descendenz-
Theorie
, ihre Begründung durch das gewaltige, im Laufe
dieses halben Jahrhunderts angesammelte Thatsachen-Material --
und zweitens die Aufstellung der Selektions-Theorie,
jener Zuchtwahllehre, welche uns erst eigentlich die wahren be-
wirkenden Ursachen der allmählichen Art-Umbildung enthüllt.

Zweckbegriff der Lebenskraft. XIV.
ſelbſt zeigte in einer langen Reihe von ausgezeichneten Be-
obachtungen und ſcharfſinnigen Experimenten, daß die meiſten
Lebensthätigkeiten im Organismus des Menſchen ebenſo wie der
übrigen Thiere nach phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen ge-
ſchehen, daß viele von ihnen ſogar mathematiſch beſtimmbar ſind.
Das gilt ebenſo wohl von den animalen Funktionen der Muskeln
und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von
den vegetalen Vorgängen bei der Ernährung und dem Stoffwechſel,
der Verdauung und dem Blutkreislauf. Räthſelhaft und ohne
die Annahme einer Lebenskraft nicht erklärbar blieben eigentlich
nur zwei Gebiete, das der höheren Seelenthätigkeit (Geiſtesleben)
und das der Fortpflanzung (Zeugung). Aber auch auf dieſen
Gebieten wurden unmittelbar nach Müller's Tode ſolche ge-
waltige Entdeckungen und Fortſchritte gemacht, daß das unheim-
liche „Geſpenſt der Lebenskraft“ auch aus dieſen letzten Schlupf-
winkeln verſchwand. Es war gewiß ein merkwürdiger chrono-
logiſcher Zufall, daß Johannes Müller 1858 in demſelben
Jahre ſtarb, in welchem Charles Darwin die erſten Mit-
theilungen über ſeine epochemachende Theorie veröffentlichte.
Die Selektions-Theorie des Letzteren beantwortete das
große Räthſel, vor welchem der Erſtere ſtehen geblieben war: die
Frage von der Entſtehung zweckmäßiger Einrichtungen durch rein
mechaniſche Urſachen.

Der Zweck in der Selektions-Theorie (Darwin 1859).
Das unſterbliche philoſophiſche Verdienſt Darwin's bleibt, wie
wir ſchon oft betont haben, ein doppeltes: erſtens die Reform
der älteren, 1809 von Lamarck begründeten Deſcendenz-
Theorie
, ihre Begründung durch das gewaltige, im Laufe
dieſes halben Jahrhunderts angeſammelte Thatſachen-Material —
und zweitens die Aufſtellung der Selektions-Theorie,
jener Zuchtwahllehre, welche uns erſt eigentlich die wahren be-
wirkenden Urſachen der allmählichen Art-Umbildung enthüllt.

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[304/0320] Zweckbegriff der Lebenskraft. XIV. ſelbſt zeigte in einer langen Reihe von ausgezeichneten Be- obachtungen und ſcharfſinnigen Experimenten, daß die meiſten Lebensthätigkeiten im Organismus des Menſchen ebenſo wie der übrigen Thiere nach phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen ge- ſchehen, daß viele von ihnen ſogar mathematiſch beſtimmbar ſind. Das gilt ebenſo wohl von den animalen Funktionen der Muskeln und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von den vegetalen Vorgängen bei der Ernährung und dem Stoffwechſel, der Verdauung und dem Blutkreislauf. Räthſelhaft und ohne die Annahme einer Lebenskraft nicht erklärbar blieben eigentlich nur zwei Gebiete, das der höheren Seelenthätigkeit (Geiſtesleben) und das der Fortpflanzung (Zeugung). Aber auch auf dieſen Gebieten wurden unmittelbar nach Müller's Tode ſolche ge- waltige Entdeckungen und Fortſchritte gemacht, daß das unheim- liche „Geſpenſt der Lebenskraft“ auch aus dieſen letzten Schlupf- winkeln verſchwand. Es war gewiß ein merkwürdiger chrono- logiſcher Zufall, daß Johannes Müller 1858 in demſelben Jahre ſtarb, in welchem Charles Darwin die erſten Mit- theilungen über ſeine epochemachende Theorie veröffentlichte. Die Selektions-Theorie des Letzteren beantwortete das große Räthſel, vor welchem der Erſtere ſtehen geblieben war: die Frage von der Entſtehung zweckmäßiger Einrichtungen durch rein mechaniſche Urſachen. Der Zweck in der Selektions-Theorie (Darwin 1859). Das unſterbliche philoſophiſche Verdienſt Darwin's bleibt, wie wir ſchon oft betont haben, ein doppeltes: erſtens die Reform der älteren, 1809 von Lamarck begründeten Deſcendenz- Theorie, ihre Begründung durch das gewaltige, im Laufe dieſes halben Jahrhunderts angeſammelte Thatſachen-Material — und zweitens die Aufſtellung der Selektions-Theorie, jener Zuchtwahllehre, welche uns erſt eigentlich die wahren be- wirkenden Urſachen der allmählichen Art-Umbildung enthüllt.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/320>, abgerufen am 22.11.2024.