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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Der kinetische Substanz-Begriff. XII.
begriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen
der erhabensten, tiefsten und wahrsten Gedanken aller Zeiten
halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unserer Er-
kenntniß zugänglich sind, alle individuellen Formen des Daseins,
sind nur besondere vergängliche Formen der Substanz, Acci-
denzien
oder Moden. Diese Modi sind körperliche Dinge,
materielle Körper, wenn wir sie unter dem Attribut der Aus-
dehnung
(der "Raumerfüllung") betrachten, dagegen Kräfte
oder Ideen, wenn wir sie unter dem Attribut des Denkens
(der "Energie") betrachten. Auf diese Grundvorstellung von
Spinoza kommt auch unser gereinigter Monismus nach
200 Jahren zurück; auch für uns sind Materie (der raum-
erfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft) nur zwei
untrennbare Attribute der einen Substanz.

Der kinetische Substanz-Begriff (Urprincip der Schwin-
gung oder Vibration). Unter den verschiedenen Modifikationen,
welche der fundamentale Substanz-Begriff in der neueren Physik,
in Verbindung mit der herrschenden Atomistik angenommen hat,
mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be-
leuchtet werden, die kinetische und pyknotische. Beide Substanz-
Theorien stimmen darin überein, daß es gelungen ist, alle ver-
schiedenen Naturkräfte auf eine gemeinsame Urkraft zurück-
zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis-
mus, Licht und Wärme u. s. w. sind nur verschiedene Aeußerungs-
weisen, Kraftformen oder Dynamoden einer einzigen Urkraft
(Prodynamis). Diese gemeinsame, alleinige Urkraft wird meistens
als eine schwingende Bewegung der kleinsten Massentheilchen
gedacht, als eine Vibration der Atome. Die Atome selbst
sind dem gewöhnlichen "kinetischen Substanz-Begriff" zufolge
todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum schwingen
und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an-
gesehenste Vertreter dieser kinetischen Substanz-Theorie ist der

Der kinetiſche Subſtanz-Begriff. XII.
begriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen
der erhabenſten, tiefſten und wahrſten Gedanken aller Zeiten
halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unſerer Er-
kenntniß zugänglich ſind, alle individuellen Formen des Daſeins,
ſind nur beſondere vergängliche Formen der Subſtanz, Acci-
denzien
oder Moden. Dieſe Modi ſind körperliche Dinge,
materielle Körper, wenn wir ſie unter dem Attribut der Aus-
dehnung
(der „Raumerfüllung“) betrachten, dagegen Kräfte
oder Ideen, wenn wir ſie unter dem Attribut des Denkens
(der „Energie“) betrachten. Auf dieſe Grundvorſtellung von
Spinoza kommt auch unſer gereinigter Monismus nach
200 Jahren zurück; auch für uns ſind Materie (der raum-
erfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft) nur zwei
untrennbare Attribute der einen Subſtanz.

Der kinetiſche Subſtanz-Begriff (Urprincip der Schwin-
gung oder Vibration). Unter den verſchiedenen Modifikationen,
welche der fundamentale Subſtanz-Begriff in der neueren Phyſik,
in Verbindung mit der herrſchenden Atomiſtik angenommen hat,
mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be-
leuchtet werden, die kinetiſche und pyknotiſche. Beide Subſtanz-
Theorien ſtimmen darin überein, daß es gelungen iſt, alle ver-
ſchiedenen Naturkräfte auf eine gemeinſame Urkraft zurück-
zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis-
mus, Licht und Wärme u. ſ. w. ſind nur verſchiedene Aeußerungs-
weiſen, Kraftformen oder Dynamoden einer einzigen Urkraft
(Prodynamiſ). Dieſe gemeinſame, alleinige Urkraft wird meiſtens
als eine ſchwingende Bewegung der kleinſten Maſſentheilchen
gedacht, als eine Vibration der Atome. Die Atome ſelbſt
ſind dem gewöhnlichen „kinetiſchen Subſtanz-Begriff“ zufolge
todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum ſchwingen
und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an-
geſehenſte Vertreter dieſer kinetiſchen Subſtanz-Theorie iſt der

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[250/0266] Der kinetiſche Subſtanz-Begriff. XII. begriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen der erhabenſten, tiefſten und wahrſten Gedanken aller Zeiten halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unſerer Er- kenntniß zugänglich ſind, alle individuellen Formen des Daſeins, ſind nur beſondere vergängliche Formen der Subſtanz, Acci- denzien oder Moden. Dieſe Modi ſind körperliche Dinge, materielle Körper, wenn wir ſie unter dem Attribut der Aus- dehnung (der „Raumerfüllung“) betrachten, dagegen Kräfte oder Ideen, wenn wir ſie unter dem Attribut des Denkens (der „Energie“) betrachten. Auf dieſe Grundvorſtellung von Spinoza kommt auch unſer gereinigter Monismus nach 200 Jahren zurück; auch für uns ſind Materie (der raum- erfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft) nur zwei untrennbare Attribute der einen Subſtanz. Der kinetiſche Subſtanz-Begriff (Urprincip der Schwin- gung oder Vibration). Unter den verſchiedenen Modifikationen, welche der fundamentale Subſtanz-Begriff in der neueren Phyſik, in Verbindung mit der herrſchenden Atomiſtik angenommen hat, mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be- leuchtet werden, die kinetiſche und pyknotiſche. Beide Subſtanz- Theorien ſtimmen darin überein, daß es gelungen iſt, alle ver- ſchiedenen Naturkräfte auf eine gemeinſame Urkraft zurück- zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis- mus, Licht und Wärme u. ſ. w. ſind nur verſchiedene Aeußerungs- weiſen, Kraftformen oder Dynamoden einer einzigen Urkraft (Prodynamiſ). Dieſe gemeinſame, alleinige Urkraft wird meiſtens als eine ſchwingende Bewegung der kleinſten Maſſentheilchen gedacht, als eine Vibration der Atome. Die Atome ſelbſt ſind dem gewöhnlichen „kinetiſchen Subſtanz-Begriff“ zufolge todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum ſchwingen und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an- geſehenſte Vertreter dieſer kinetiſchen Subſtanz-Theorie iſt der

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/266>, abgerufen am 22.11.2024.