rabimus-Rede dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Natur- forscher und Philosophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig über hinreichende naturphilosophische Kenntnisse und über den erforderlichen moralischen Muth verfügten, um den dogmatischen Machtsprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der Berliner Akademie der Wissenschaften entgegenzutreten.
Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der Redner selbst später gelegentlich als unberechtigt und übertrieben bezeichnet hat!) erklärt sich aus zwei Gründen, einem äußeren und einem inneren. Aeußerlich betrachtet war dieselbe unzweifel- haft "ein bedeutungsvolles rhetorisches Kunstwerk, eine schöne Predigt von hoher Vollendung der Form und überraschendem Wechsel naturphilosophischer Bilder. Bekanntlich beurtheilt aber die Mehrheit -- und besonders das "schöne Geschlecht"! -- eine schöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte, sondern nach dem ästhetischen Unterhaltungswerthe" (Monismus, S. 44). Innerlich analysirt dagegen enthält die Ignorabimus- Rede das entschiedene Programm des metaphysischen Dualismus; die Welt ist "doppelt unbegreiflich": einmal die materielle Welt, in welcher "Materie und Kraft" ihr Wesen treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt des "Geistes", in welcher "Denken und Bewußtsein nicht aus materiellen Bedingungen erklärbar" sind, wie bei der ersteren. Es war ganz naturgemäß, daß der herrschende Dualismus und Mysticismus diese Anerkennung der zwei verschiedenen Welten mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menschen und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Der Jubel der Spiritualisten darüber war um so heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender prin- cipieller Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus gegolten hatte; und das war und blieb er auch (trotz seiner "schönen"
Haeckel, Welträthsel. 14
X. Dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins.
rabimus-Rede dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Natur- forſcher und Philoſophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig über hinreichende naturphiloſophiſche Kenntniſſe und über den erforderlichen moraliſchen Muth verfügten, um den dogmatiſchen Machtſprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der Berliner Akademie der Wiſſenſchaften entgegenzutreten.
Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der Redner ſelbſt ſpäter gelegentlich als unberechtigt und übertrieben bezeichnet hat!) erklärt ſich aus zwei Gründen, einem äußeren und einem inneren. Aeußerlich betrachtet war dieſelbe unzweifel- haft „ein bedeutungsvolles rhetoriſches Kunſtwerk, eine ſchöne Predigt von hoher Vollendung der Form und überraſchendem Wechſel naturphiloſophiſcher Bilder. Bekanntlich beurtheilt aber die Mehrheit — und beſonders das „ſchöne Geſchlecht“! — eine ſchöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte, ſondern nach dem äſthetiſchen Unterhaltungswerthe“ (Monismus, S. 44). Innerlich analyſirt dagegen enthält die Ignorabimus- Rede das entſchiedene Programm des metaphyſiſchen Dualismus; die Welt iſt „doppelt unbegreiflich“: einmal die materielle Welt, in welcher „Materie und Kraft“ ihr Weſen treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt des „Geiſtes“, in welcher „Denken und Bewußtſein nicht aus materiellen Bedingungen erklärbar“ ſind, wie bei der erſteren. Es war ganz naturgemäß, daß der herrſchende Dualismus und Myſticismus dieſe Anerkennung der zwei verſchiedenen Welten mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menſchen und die Unſterblichkeit der Seele zu beweiſen. Der Jubel der Spiritualiſten darüber war um ſo heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender prin- cipieller Vertreter des wiſſenſchaftlichen Materialismus gegolten hatte; und das war und blieb er auch (trotz ſeiner „ſchönen“
Haeckel, Welträthſel. 14
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0225"n="209"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">X.</hi> Dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins.</fw><lb/>
rabimus-Rede dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Natur-<lb/>
forſcher und Philoſophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig<lb/>
über hinreichende naturphiloſophiſche Kenntniſſe und über den<lb/>
erforderlichen moraliſchen Muth verfügten, um den dogmatiſchen<lb/>
Machtſprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der<lb/>
Berliner Akademie der Wiſſenſchaften entgegenzutreten.</p><lb/><p>Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der<lb/>
Redner ſelbſt ſpäter gelegentlich als unberechtigt und übertrieben<lb/>
bezeichnet hat!) erklärt ſich aus zwei Gründen, einem äußeren<lb/>
und einem inneren. Aeußerlich betrachtet war dieſelbe unzweifel-<lb/>
haft „ein bedeutungsvolles rhetoriſches Kunſtwerk, eine <hirendition="#g">ſchöne<lb/>
Predigt</hi> von hoher Vollendung der Form und überraſchendem<lb/>
Wechſel naturphiloſophiſcher Bilder. Bekanntlich beurtheilt aber<lb/>
die Mehrheit — und beſonders das „ſchöne Geſchlecht“! —<lb/>
eine ſchöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte,<lb/>ſondern nach dem äſthetiſchen Unterhaltungswerthe“ (Monismus,<lb/>
S. 44). Innerlich analyſirt dagegen enthält die Ignorabimus-<lb/>
Rede das entſchiedene Programm des <hirendition="#g">metaphyſiſchen<lb/>
Dualismus</hi>; die Welt iſt „<hirendition="#g">doppelt</hi> unbegreiflich“: einmal<lb/>
die materielle Welt, in welcher „Materie und Kraft“ ihr Weſen<lb/>
treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt<lb/>
des „Geiſtes“, in welcher „Denken und Bewußtſein nicht aus<lb/>
materiellen Bedingungen erklärbar“ſind, wie bei der erſteren.<lb/>
Es war ganz naturgemäß, daß der herrſchende Dualismus und<lb/>
Myſticismus dieſe Anerkennung der zwei verſchiedenen Welten<lb/>
mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menſchen<lb/>
und die Unſterblichkeit der Seele zu beweiſen. Der Jubel der<lb/>
Spiritualiſten darüber war um ſo heller und berechtigter, als<lb/>
E. <hirendition="#g">Du Bois-Reymond</hi> bis dahin als ein bedeutender prin-<lb/>
cipieller Vertreter des wiſſenſchaftlichen Materialismus gegolten<lb/>
hatte; und das war und blieb er auch (trotz ſeiner „ſchönen“<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Haeckel</hi>, Welträthſel. 14</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[209/0225]
X. Dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins.
rabimus-Rede dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Natur-
forſcher und Philoſophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig
über hinreichende naturphiloſophiſche Kenntniſſe und über den
erforderlichen moraliſchen Muth verfügten, um den dogmatiſchen
Machtſprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der
Berliner Akademie der Wiſſenſchaften entgegenzutreten.
Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der
Redner ſelbſt ſpäter gelegentlich als unberechtigt und übertrieben
bezeichnet hat!) erklärt ſich aus zwei Gründen, einem äußeren
und einem inneren. Aeußerlich betrachtet war dieſelbe unzweifel-
haft „ein bedeutungsvolles rhetoriſches Kunſtwerk, eine ſchöne
Predigt von hoher Vollendung der Form und überraſchendem
Wechſel naturphiloſophiſcher Bilder. Bekanntlich beurtheilt aber
die Mehrheit — und beſonders das „ſchöne Geſchlecht“! —
eine ſchöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte,
ſondern nach dem äſthetiſchen Unterhaltungswerthe“ (Monismus,
S. 44). Innerlich analyſirt dagegen enthält die Ignorabimus-
Rede das entſchiedene Programm des metaphyſiſchen
Dualismus; die Welt iſt „doppelt unbegreiflich“: einmal
die materielle Welt, in welcher „Materie und Kraft“ ihr Weſen
treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt
des „Geiſtes“, in welcher „Denken und Bewußtſein nicht aus
materiellen Bedingungen erklärbar“ ſind, wie bei der erſteren.
Es war ganz naturgemäß, daß der herrſchende Dualismus und
Myſticismus dieſe Anerkennung der zwei verſchiedenen Welten
mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menſchen
und die Unſterblichkeit der Seele zu beweiſen. Der Jubel der
Spiritualiſten darüber war um ſo heller und berechtigter, als
E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender prin-
cipieller Vertreter des wiſſenſchaftlichen Materialismus gegolten
hatte; und das war und blieb er auch (trotz ſeiner „ſchönen“
Haeckel, Welträthſel. 14
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/225>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.