Sinnesschärfe, Willens-Energie von beiden Eltern erbt, ist allgemein bekannt. Ebenso bekannt ist die Thatsache, daß oft (oder eigentlich allgemein!) auch psychische Eigenschaften von beiderlei Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja häufig stimmt in einzelnen Beziehungen der Mensch mehr mit den Großeltern als mit den Eltern überein, und das gilt ebenso von geistigen wie von körperlichen Eigenthümlichkeiten. Alle die merkwürdigen Gesetze der Vererbung, welche ich zuerst (1866) in der Generellen Morphologie formulirt und in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte populär behandelt habe, besitzen ebenso allgemeine Gültigkeit für die besonderen Erscheinungen der Seelenthätigkeit wie der Körperbildung; ja, sie treten uns häufig an der ersteren noch viel auffallender und klarer entgegen als an der letzteren.
Nun ist ja an sich das große Gebiet der Vererbung, für dessen ungeheuere Bedeutung uns erst Darwin (1859) das wissenschaftliche Verständniß eröffnet hat, reich an dunkeln Räthseln und physiologischen Schwierigkeiten; wir dürfen nicht beanspruchen, daß uns schon jetzt, nach 40 Jahren, alle Seiten desselben klar vor Augen liegen. Aber so viel haben wir doch schon sicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine physiologische Funktion des Organismus betrachten, die mit der Thätigkeit seiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft ist; und wie alle anderen Lebensthätigkeiten müssen wir auch diese schließlich auf physikalische und chemische Processe, auf Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir aber jetzt den Vorgang der Befruchtung selbst genau; wir wissen, daß dabei ebenso der Spermakern die väterlichen, wie der Eikern die mütterlichen Eigenschaften auf die neugebildete Stammzelle über- trägt. Die Vermischung beider Zellkerne ist das eigentliche Haupt- moment der Vererbung; durch sie werden ebenso die individuellen Eigenschaften der Seele wie des Leibes auf das neugebildete
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VIII. Vererbung der Seele.
Sinnesſchärfe, Willens-Energie von beiden Eltern erbt, iſt allgemein bekannt. Ebenſo bekannt iſt die Thatſache, daß oft (oder eigentlich allgemein!) auch pſychiſche Eigenſchaften von beiderlei Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja häufig ſtimmt in einzelnen Beziehungen der Menſch mehr mit den Großeltern als mit den Eltern überein, und das gilt ebenſo von geiſtigen wie von körperlichen Eigenthümlichkeiten. Alle die merkwürdigen Geſetze der Vererbung, welche ich zuerſt (1866) in der Generellen Morphologie formulirt und in der Natürlichen Schöpfungsgeſchichte populär behandelt habe, beſitzen ebenſo allgemeine Gültigkeit für die beſonderen Erſcheinungen der Seelenthätigkeit wie der Körperbildung; ja, ſie treten uns häufig an der erſteren noch viel auffallender und klarer entgegen als an der letzteren.
Nun iſt ja an ſich das große Gebiet der Vererbung, für deſſen ungeheuere Bedeutung uns erſt Darwin (1859) das wiſſenſchaftliche Verſtändniß eröffnet hat, reich an dunkeln Räthſeln und phyſiologiſchen Schwierigkeiten; wir dürfen nicht beanſpruchen, daß uns ſchon jetzt, nach 40 Jahren, alle Seiten desſelben klar vor Augen liegen. Aber ſo viel haben wir doch ſchon ſicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine phyſiologiſche Funktion des Organismus betrachten, die mit der Thätigkeit ſeiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft iſt; und wie alle anderen Lebensthätigkeiten müſſen wir auch dieſe ſchließlich auf phyſikaliſche und chemiſche Proceſſe, auf Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir aber jetzt den Vorgang der Befruchtung ſelbſt genau; wir wiſſen, daß dabei ebenſo der Spermakern die väterlichen, wie der Eikern die mütterlichen Eigenſchaften auf die neugebildete Stammzelle über- trägt. Die Vermiſchung beider Zellkerne iſt das eigentliche Haupt- moment der Vererbung; durch ſie werden ebenſo die individuellen Eigenſchaften der Seele wie des Leibes auf das neugebildete
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VIII. Vererbung der Seele.
Sinnesſchärfe, Willens-Energie von beiden Eltern erbt, iſt
allgemein bekannt. Ebenſo bekannt iſt die Thatſache, daß oft
(oder eigentlich allgemein!) auch pſychiſche Eigenſchaften von
beiderlei Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja
häufig ſtimmt in einzelnen Beziehungen der Menſch mehr mit
den Großeltern als mit den Eltern überein, und das gilt ebenſo
von geiſtigen wie von körperlichen Eigenthümlichkeiten. Alle die
merkwürdigen Geſetze der Vererbung, welche ich zuerſt
(1866) in der Generellen Morphologie formulirt und in der
Natürlichen Schöpfungsgeſchichte populär behandelt habe, beſitzen
ebenſo allgemeine Gültigkeit für die beſonderen Erſcheinungen der
Seelenthätigkeit wie der Körperbildung; ja, ſie treten uns häufig
an der erſteren noch viel auffallender und klarer entgegen als
an der letzteren.
Nun iſt ja an ſich das große Gebiet der Vererbung, für
deſſen ungeheuere Bedeutung uns erſt Darwin (1859) das
wiſſenſchaftliche Verſtändniß eröffnet hat, reich an dunkeln
Räthſeln und phyſiologiſchen Schwierigkeiten; wir dürfen nicht
beanſpruchen, daß uns ſchon jetzt, nach 40 Jahren, alle Seiten
desſelben klar vor Augen liegen. Aber ſo viel haben wir doch
ſchon ſicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine
phyſiologiſche Funktion des Organismus betrachten, die
mit der Thätigkeit ſeiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft
iſt; und wie alle anderen Lebensthätigkeiten müſſen wir auch
dieſe ſchließlich auf phyſikaliſche und chemiſche Proceſſe, auf
Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir aber
jetzt den Vorgang der Befruchtung ſelbſt genau; wir wiſſen, daß
dabei ebenſo der Spermakern die väterlichen, wie der Eikern die
mütterlichen Eigenſchaften auf die neugebildete Stammzelle über-
trägt. Die Vermiſchung beider Zellkerne iſt das eigentliche Haupt-
moment der Vererbung; durch ſie werden ebenſo die individuellen
Eigenſchaften der Seele wie des Leibes auf das neugebildete
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/179>, abgerufen am 23.07.2024.
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