Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Wahlverwandtschaft der Geschlechtszellen. VIII.
seitig an und legen sich fest an einander. Die Ursache dieser
cellularen Attraktion ist eine chemische, dem Geruche oder Ge-
schmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des Plasma, die wir als
"erotischen Chemotropismus" bezeichnen; man kann sie
auch geradezu (sowohl im Sinne der Chemie als im Sinne
der Roman-Liebe) "Zellen-Wahlverwandtschaft" oder "sexuelle
Zellenliebe nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma
schwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und versuchen in
deren Körper einzudringen. Wie Hertwig (1875) gezeigt hat,
gelingt es aber normaler Weise nur einem einzigen glücklichen
Bewerber, das ersehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald sich
dieses bevorzugte "Samenthierchen" mit seinem "Kopfe" (d. h.
dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird
von der Eizelle eine dünne Schleimschicht abgesondert, welche
das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn
Hertwig durch niedere Temperatur die Eizelle in Kälte-Starre
versetzte oder sie durch narkotische Mittel (Chloroform, Mor-
phium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung dieser Schutz-
hülle; dann trat "Ueberfruchtung" oder Polyspermie ein,
und zahlreiche Samenfäden bohrten sich in den Leib der bewußt-
losen Zelle ein (Anthropogenie S. 147). Diese merkwürdige
Thatsache bezeugte ebenso einen niederen Grad von "cellu-
larem Instinkt
" (oder mindestens von specifischer, sinnlicher,
lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geschlechts-Zellen wie
die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf sich in ihrem Innern
abspielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und
der männliche Spermakern, ziehen sich gegenseitig an, nähern
sich und verschmelzen bei der Berührung vollständig mit einander.
So ist denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle
entstanden, welche wir Stammzelle (Cytula) nennen, und
aus deren wiederholten Theilung der ganze vielzellige Organismus
hervorgeht.

Wahlverwandtſchaft der Geſchlechtszellen. VIII.
ſeitig an und legen ſich feſt an einander. Die Urſache dieſer
cellularen Attraktion iſt eine chemiſche, dem Geruche oder Ge-
ſchmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des Plasma, die wir als
erotiſchen Chemotropismus“ bezeichnen; man kann ſie
auch geradezu (ſowohl im Sinne der Chemie als im Sinne
der Roman-Liebe) „Zellen-Wahlverwandtſchaft“ oder „ſexuelle
Zellenliebe nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma
ſchwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und verſuchen in
deren Körper einzudringen. Wie Hertwig (1875) gezeigt hat,
gelingt es aber normaler Weiſe nur einem einzigen glücklichen
Bewerber, das erſehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald ſich
dieſes bevorzugte „Samenthierchen“ mit ſeinem „Kopfe“ (d. h.
dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird
von der Eizelle eine dünne Schleimſchicht abgeſondert, welche
das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn
Hertwig durch niedere Temperatur die Eizelle in Kälte-Starre
verſetzte oder ſie durch narkotiſche Mittel (Chloroform, Mor-
phium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung dieſer Schutz-
hülle; dann trat „Ueberfruchtung“ oder Polyſpermie ein,
und zahlreiche Samenfäden bohrten ſich in den Leib der bewußt-
loſen Zelle ein (Anthropogenie S. 147). Dieſe merkwürdige
Thatſache bezeugte ebenſo einen niederen Grad von „cellu-
larem Inſtinkt
“ (oder mindeſtens von ſpecifiſcher, ſinnlicher,
lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geſchlechts-Zellen wie
die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf ſich in ihrem Innern
abſpielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und
der männliche Spermakern, ziehen ſich gegenſeitig an, nähern
ſich und verſchmelzen bei der Berührung vollſtändig mit einander.
So iſt denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle
entſtanden, welche wir Stammzelle (Cytula) nennen, und
aus deren wiederholten Theilung der ganze vielzellige Organismus
hervorgeht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0176" n="160"/><fw place="top" type="header">Wahlverwandt&#x017F;chaft der Ge&#x017F;chlechtszellen. <hi rendition="#aq">VIII.</hi></fw><lb/>
&#x017F;eitig an und legen &#x017F;ich fe&#x017F;t an einander. Die Ur&#x017F;ache die&#x017F;er<lb/>
cellularen Attraktion i&#x017F;t eine chemi&#x017F;che, dem Geruche oder Ge-<lb/>
&#x017F;chmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des Plasma, die wir als<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#g">eroti&#x017F;chen Chemotropismus</hi>&#x201C; bezeichnen; man kann &#x017F;ie<lb/>
auch geradezu (&#x017F;owohl im Sinne der Chemie als im Sinne<lb/>
der Roman-Liebe) &#x201E;Zellen-Wahlverwandt&#x017F;chaft&#x201C; oder &#x201E;&#x017F;exuelle<lb/><hi rendition="#g">Zellenliebe</hi> nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma<lb/>
&#x017F;chwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und ver&#x017F;uchen in<lb/>
deren Körper einzudringen. Wie <hi rendition="#g">Hertwig</hi> (1875) gezeigt hat,<lb/>
gelingt es aber normaler Wei&#x017F;e nur einem einzigen glücklichen<lb/>
Bewerber, das er&#x017F;ehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald &#x017F;ich<lb/>
die&#x017F;es bevorzugte &#x201E;Samenthierchen&#x201C; mit &#x017F;einem &#x201E;Kopfe&#x201C; (d. h.<lb/>
dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird<lb/>
von der Eizelle eine dünne Schleim&#x017F;chicht abge&#x017F;ondert, welche<lb/>
das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn<lb/><hi rendition="#g">Hertwig</hi> durch niedere Temperatur die Eizelle in Kälte-Starre<lb/>
ver&#x017F;etzte oder &#x017F;ie durch narkoti&#x017F;che Mittel (Chloroform, Mor-<lb/>
phium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung die&#x017F;er Schutz-<lb/>
hülle; dann trat &#x201E;<hi rendition="#g">Ueberfruchtung</hi>&#x201C; oder <hi rendition="#g">Poly&#x017F;permie</hi> ein,<lb/>
und zahlreiche Samenfäden bohrten &#x017F;ich in den Leib der bewußt-<lb/>
lo&#x017F;en Zelle ein (Anthropogenie S. 147). Die&#x017F;e merkwürdige<lb/>
That&#x017F;ache bezeugte eben&#x017F;o einen niederen Grad von &#x201E;<hi rendition="#g">cellu-<lb/>
larem In&#x017F;tinkt</hi>&#x201C; (oder minde&#x017F;tens von &#x017F;pecifi&#x017F;cher, &#x017F;innlicher,<lb/>
lebhafter Empfindung) in den beiderlei Ge&#x017F;chlechts-Zellen wie<lb/>
die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf &#x017F;ich in ihrem Innern<lb/>
ab&#x017F;pielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und<lb/>
der männliche Spermakern, ziehen &#x017F;ich gegen&#x017F;eitig an, nähern<lb/>
&#x017F;ich und ver&#x017F;chmelzen bei der Berührung voll&#x017F;tändig mit einander.<lb/>
So i&#x017F;t denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle<lb/>
ent&#x017F;tanden, welche wir <hi rendition="#g">Stammzelle</hi> <hi rendition="#aq">(Cytula)</hi> nennen, und<lb/>
aus deren wiederholten Theilung der ganze vielzellige Organismus<lb/>
hervorgeht.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[160/0176] Wahlverwandtſchaft der Geſchlechtszellen. VIII. ſeitig an und legen ſich feſt an einander. Die Urſache dieſer cellularen Attraktion iſt eine chemiſche, dem Geruche oder Ge- ſchmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des Plasma, die wir als „erotiſchen Chemotropismus“ bezeichnen; man kann ſie auch geradezu (ſowohl im Sinne der Chemie als im Sinne der Roman-Liebe) „Zellen-Wahlverwandtſchaft“ oder „ſexuelle Zellenliebe nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma ſchwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und verſuchen in deren Körper einzudringen. Wie Hertwig (1875) gezeigt hat, gelingt es aber normaler Weiſe nur einem einzigen glücklichen Bewerber, das erſehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald ſich dieſes bevorzugte „Samenthierchen“ mit ſeinem „Kopfe“ (d. h. dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird von der Eizelle eine dünne Schleimſchicht abgeſondert, welche das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn Hertwig durch niedere Temperatur die Eizelle in Kälte-Starre verſetzte oder ſie durch narkotiſche Mittel (Chloroform, Mor- phium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung dieſer Schutz- hülle; dann trat „Ueberfruchtung“ oder Polyſpermie ein, und zahlreiche Samenfäden bohrten ſich in den Leib der bewußt- loſen Zelle ein (Anthropogenie S. 147). Dieſe merkwürdige Thatſache bezeugte ebenſo einen niederen Grad von „cellu- larem Inſtinkt“ (oder mindeſtens von ſpecifiſcher, ſinnlicher, lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geſchlechts-Zellen wie die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf ſich in ihrem Innern abſpielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und der männliche Spermakern, ziehen ſich gegenſeitig an, nähern ſich und verſchmelzen bei der Berührung vollſtändig mit einander. So iſt denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle entſtanden, welche wir Stammzelle (Cytula) nennen, und aus deren wiederholten Theilung der ganze vielzellige Organismus hervorgeht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/176
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/176>, abgerufen am 27.11.2024.