Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
VII. Stufenleiter der Vorstellungen.

I. Cellulare Vorstellung. Auf den niedersten Stufen
begegnet uns die Vorstellung als eine allgemeine physiologische
Funktion des Psychoplasma; schon bei den einfachsten einzelligen
Protisten können Empfindungen bleibende Spuren im Psycho-
plasma hinterlassen, und diese können vom Gedächtniß repro-
ducirt werden. Bei mehr als viertausend Radiolarien-Arten,
welche ich beschrieben habe, ist jede einzelne Species durch eine
besondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion
dieses specifischen, oft höchst verwickelt gebauten Skeletts durch
eine höchst einfach gestaltete (meist kugelige) Zelle ist nur dann
erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der
Vorstellung zuschreiben, und zwar der besonderen Reproduktion
des "plastischen Distanz-Gefühls", wie ich in meiner Psychologie
der Radiolarien gezeigt habe *).

II. Histonale Vorstellung. Schon bei den Cöno-
bien oder Zellvereinen der geselligen Protisten, noch mehr aber
in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenlosen
Thiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe
der unbewußten Vorstellung, welche auf dem gemeinsamen
Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn
einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung
eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen-
Armes) auslösen, sondern einen bleibenden Eindruck hinterlassen,
der von diesem später spontan reproducirt werden kann, so
müssen wir zur Erklärung dieser Erscheinung eine Histonal-
Vorstellung annehmen, gebunden an das Psychoplasma der
associirten Gewebe-Zellen.

III. Unbewußte Vorstellung der Ganglien-
Zellen
. Diese dritte, höhere Stufe der Vorstellung ist die

*) E. Haeckel, Allgemeine Naturgeschichte der Radiolarien, 1887,
S. 121.
VII. Stufenleiter der Vorſtellungen.

I. Cellulare Vorſtellung. Auf den niederſten Stufen
begegnet uns die Vorſtellung als eine allgemeine phyſiologiſche
Funktion des Pſychoplasma; ſchon bei den einfachſten einzelligen
Protiſten können Empfindungen bleibende Spuren im Pſycho-
plasma hinterlaſſen, und dieſe können vom Gedächtniß repro-
ducirt werden. Bei mehr als viertauſend Radiolarien-Arten,
welche ich beſchrieben habe, iſt jede einzelne Species durch eine
beſondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion
dieſes ſpecifiſchen, oft höchſt verwickelt gebauten Skeletts durch
eine höchſt einfach geſtaltete (meiſt kugelige) Zelle iſt nur dann
erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der
Vorſtellung zuſchreiben, und zwar der beſonderen Reproduktion
des „plaſtiſchen Diſtanz-Gefühls“, wie ich in meiner Pſychologie
der Radiolarien gezeigt habe *).

II. Hiſtonale Vorſtellung. Schon bei den Cöno-
bien oder Zellvereinen der geſelligen Protiſten, noch mehr aber
in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenloſen
Thiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe
der unbewußten Vorſtellung, welche auf dem gemeinſamen
Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn
einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung
eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen-
Armes) auslöſen, ſondern einen bleibenden Eindruck hinterlaſſen,
der von dieſem ſpäter ſpontan reproducirt werden kann, ſo
müſſen wir zur Erklärung dieſer Erſcheinung eine Hiſtonal-
Vorſtellung annehmen, gebunden an das Pſychoplasma der
aſſociirten Gewebe-Zellen.

III. Unbewußte Vorſtellung der Ganglien-
Zellen
. Dieſe dritte, höhere Stufe der Vorſtellung iſt die

*) E. Haeckel, Allgemeine Naturgeſchichte der Radiolarien, 1887,
S. 121.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0153" n="137"/>
          <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Stufenleiter der Vor&#x017F;tellungen.</fw><lb/>
          <p><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#g">Cellulare Vor&#x017F;tellung</hi>. Auf den nieder&#x017F;ten Stufen<lb/>
begegnet uns die Vor&#x017F;tellung als eine allgemeine phy&#x017F;iologi&#x017F;che<lb/>
Funktion des P&#x017F;ychoplasma; &#x017F;chon bei den einfach&#x017F;ten einzelligen<lb/>
Proti&#x017F;ten können Empfindungen bleibende Spuren im P&#x017F;ycho-<lb/>
plasma hinterla&#x017F;&#x017F;en, und die&#x017F;e können vom Gedächtniß repro-<lb/>
ducirt werden. Bei mehr als viertau&#x017F;end Radiolarien-Arten,<lb/>
welche ich be&#x017F;chrieben habe, i&#x017F;t jede einzelne Species durch eine<lb/>
be&#x017F;ondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion<lb/>
die&#x017F;es &#x017F;pecifi&#x017F;chen, oft höch&#x017F;t verwickelt gebauten Skeletts durch<lb/>
eine höch&#x017F;t einfach ge&#x017F;taltete (mei&#x017F;t kugelige) Zelle i&#x017F;t nur dann<lb/>
erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der<lb/>
Vor&#x017F;tellung zu&#x017F;chreiben, und zwar der be&#x017F;onderen Reproduktion<lb/>
des &#x201E;pla&#x017F;ti&#x017F;chen Di&#x017F;tanz-Gefühls&#x201C;, wie ich in meiner P&#x017F;ychologie<lb/>
der Radiolarien gezeigt habe <note place="foot" n="*)">E. <hi rendition="#g">Haeckel</hi>, Allgemeine Naturge&#x017F;chichte der Radiolarien, 1887,<lb/>
S. 121.</note>.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#aq">II.</hi><hi rendition="#g">Hi&#x017F;tonale Vor&#x017F;tellung</hi>. Schon bei den Cöno-<lb/>
bien oder Zellvereinen der ge&#x017F;elligen Proti&#x017F;ten, noch mehr aber<lb/>
in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenlo&#x017F;en<lb/>
Thiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe<lb/>
der unbewußten Vor&#x017F;tellung, welche auf dem gemein&#x017F;amen<lb/>
Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn<lb/>
einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung<lb/>
eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen-<lb/>
Armes) auslö&#x017F;en, &#x017F;ondern einen bleibenden Eindruck hinterla&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
der von die&#x017F;em &#x017F;päter &#x017F;pontan reproducirt werden kann, &#x017F;o<lb/>&#x017F;&#x017F;en wir zur Erklärung die&#x017F;er Er&#x017F;cheinung eine Hi&#x017F;tonal-<lb/>
Vor&#x017F;tellung annehmen, gebunden an das P&#x017F;ychoplasma der<lb/>
a&#x017F;&#x017F;ociirten Gewebe-Zellen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#aq">III.</hi><hi rendition="#g">Unbewußte Vor&#x017F;tellung der Ganglien-<lb/>
Zellen</hi>. Die&#x017F;e dritte, höhere Stufe der Vor&#x017F;tellung i&#x017F;t die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0153] VII. Stufenleiter der Vorſtellungen. I. Cellulare Vorſtellung. Auf den niederſten Stufen begegnet uns die Vorſtellung als eine allgemeine phyſiologiſche Funktion des Pſychoplasma; ſchon bei den einfachſten einzelligen Protiſten können Empfindungen bleibende Spuren im Pſycho- plasma hinterlaſſen, und dieſe können vom Gedächtniß repro- ducirt werden. Bei mehr als viertauſend Radiolarien-Arten, welche ich beſchrieben habe, iſt jede einzelne Species durch eine beſondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion dieſes ſpecifiſchen, oft höchſt verwickelt gebauten Skeletts durch eine höchſt einfach geſtaltete (meiſt kugelige) Zelle iſt nur dann erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der Vorſtellung zuſchreiben, und zwar der beſonderen Reproduktion des „plaſtiſchen Diſtanz-Gefühls“, wie ich in meiner Pſychologie der Radiolarien gezeigt habe *). II. Hiſtonale Vorſtellung. Schon bei den Cöno- bien oder Zellvereinen der geſelligen Protiſten, noch mehr aber in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenloſen Thiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe der unbewußten Vorſtellung, welche auf dem gemeinſamen Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen- Armes) auslöſen, ſondern einen bleibenden Eindruck hinterlaſſen, der von dieſem ſpäter ſpontan reproducirt werden kann, ſo müſſen wir zur Erklärung dieſer Erſcheinung eine Hiſtonal- Vorſtellung annehmen, gebunden an das Pſychoplasma der aſſociirten Gewebe-Zellen. III. Unbewußte Vorſtellung der Ganglien- Zellen. Dieſe dritte, höhere Stufe der Vorſtellung iſt die *) E. Haeckel, Allgemeine Naturgeſchichte der Radiolarien, 1887, S. 121.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/153
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/153>, abgerufen am 27.11.2024.