Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Menschenseele und Affenseele.
begriffliche Denken und Abstraktions-Vermögen des Menschen hat
sich allmählich aus den nicht begrifflichen Vorstufen des Denkens
und Vorstellens bei den nächstverwandten Säugethieren entwickelt.
Die höchsten Geistesthätigkeiten des Menschen, Vernunft,
Sprache und Bewußtsein,
sind aus den niederen Vor-
stufen derselben in der Reihe der Primaten-Ahnen (Affen
und Halbaffen) hervorgegangen. Der Mensch besitzt keine einzige
"Geistesthätigkeit", welche ihm ausschließlich eigenthümlich ist;
sein ganzes Seelenleben ist von demjenigen der nächstverwandten
Säugethiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quanti-
tativ, nicht qualitativ verschieden.

Den Leser meines Buches, welcher sich für diese hochwichtigen
"Seelen-Fragen" interessirt, verweise ich auf das grundlegende
Werk von Romanes. Ich stimme fast in allen Anschauungen
und Ueberzeugungen vollständig mit ihm und mit Darwin
überein; wo sich etwa scheinbare Unterschiede zwischen diesen
Autoren und zwischen meinen früheren Ausführungen finden, da
beruhen sie entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form
meinerseits oder auf einem unbedeutenden Unterschiede in der
Anwendung der Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den
charakteristischen Merkmalen dieser "Begriffs-Wissenschaft", daß
über ihre wichtigsten Grundbegriffe die angesehensten Philosophen
ganz verschiedene Ansichten haben.



VI. Menſchenſeele und Affenſeele.
begriffliche Denken und Abſtraktions-Vermögen des Menſchen hat
ſich allmählich aus den nicht begrifflichen Vorſtufen des Denkens
und Vorſtellens bei den nächſtverwandten Säugethieren entwickelt.
Die höchſten Geiſtesthätigkeiten des Menſchen, Vernunft,
Sprache und Bewußtſein,
ſind aus den niederen Vor-
ſtufen derſelben in der Reihe der Primaten-Ahnen (Affen
und Halbaffen) hervorgegangen. Der Menſch beſitzt keine einzige
„Geiſtesthätigkeit“, welche ihm ausſchließlich eigenthümlich iſt;
ſein ganzes Seelenleben iſt von demjenigen der nächſtverwandten
Säugethiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quanti-
tativ, nicht qualitativ verſchieden.

Den Leſer meines Buches, welcher ſich für dieſe hochwichtigen
„Seelen-Fragen“ intereſſirt, verweiſe ich auf das grundlegende
Werk von Romanes. Ich ſtimme faſt in allen Anſchauungen
und Ueberzeugungen vollſtändig mit ihm und mit Darwin
überein; wo ſich etwa ſcheinbare Unterſchiede zwiſchen dieſen
Autoren und zwiſchen meinen früheren Ausführungen finden, da
beruhen ſie entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form
meinerſeits oder auf einem unbedeutenden Unterſchiede in der
Anwendung der Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den
charakteriſtiſchen Merkmalen dieſer „Begriffs-Wiſſenſchaft“, daß
über ihre wichtigſten Grundbegriffe die angeſehenſten Philoſophen
ganz verſchiedene Anſichten haben.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0139" n="123"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Men&#x017F;chen&#x017F;eele und Affen&#x017F;eele.</fw><lb/>
begriffliche Denken und Ab&#x017F;traktions-Vermögen des Men&#x017F;chen hat<lb/>
&#x017F;ich allmählich aus den nicht begrifflichen Vor&#x017F;tufen des Denkens<lb/>
und Vor&#x017F;tellens bei den näch&#x017F;tverwandten Säugethieren entwickelt.<lb/>
Die höch&#x017F;ten Gei&#x017F;testhätigkeiten des Men&#x017F;chen, <hi rendition="#g">Vernunft,<lb/>
Sprache und Bewußt&#x017F;ein,</hi> &#x017F;ind aus den niederen Vor-<lb/>
&#x017F;tufen der&#x017F;elben in der Reihe der <hi rendition="#g">Primaten-Ahnen</hi> (Affen<lb/>
und Halbaffen) hervorgegangen. Der Men&#x017F;ch be&#x017F;itzt keine einzige<lb/>
&#x201E;Gei&#x017F;testhätigkeit&#x201C;, welche ihm aus&#x017F;chließlich eigenthümlich i&#x017F;t;<lb/>
&#x017F;ein ganzes Seelenleben i&#x017F;t von demjenigen der näch&#x017F;tverwandten<lb/>
Säugethiere nur dem <hi rendition="#g">Grade,</hi> nicht der <hi rendition="#g">Art</hi> nach, nur quanti-<lb/>
tativ, nicht qualitativ ver&#x017F;chieden.</p><lb/>
          <p>Den Le&#x017F;er meines Buches, welcher &#x017F;ich für die&#x017F;e hochwichtigen<lb/>
&#x201E;Seelen-Fragen&#x201C; intere&#x017F;&#x017F;irt, verwei&#x017F;e ich auf das grundlegende<lb/>
Werk von <hi rendition="#g">Romanes</hi>. Ich &#x017F;timme fa&#x017F;t in allen An&#x017F;chauungen<lb/>
und Ueberzeugungen voll&#x017F;tändig mit ihm und mit <hi rendition="#g">Darwin</hi><lb/>
überein; wo &#x017F;ich etwa &#x017F;cheinbare Unter&#x017F;chiede zwi&#x017F;chen die&#x017F;en<lb/>
Autoren und zwi&#x017F;chen meinen früheren Ausführungen finden, da<lb/>
beruhen &#x017F;ie entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form<lb/>
meiner&#x017F;eits oder auf einem unbedeutenden Unter&#x017F;chiede in der<lb/>
Anwendung der Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den<lb/>
charakteri&#x017F;ti&#x017F;chen Merkmalen die&#x017F;er &#x201E;Begriffs-Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft&#x201C;, daß<lb/>
über ihre wichtig&#x017F;ten Grundbegriffe die ange&#x017F;ehen&#x017F;ten Philo&#x017F;ophen<lb/>
ganz ver&#x017F;chiedene An&#x017F;ichten haben.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0139] VI. Menſchenſeele und Affenſeele. begriffliche Denken und Abſtraktions-Vermögen des Menſchen hat ſich allmählich aus den nicht begrifflichen Vorſtufen des Denkens und Vorſtellens bei den nächſtverwandten Säugethieren entwickelt. Die höchſten Geiſtesthätigkeiten des Menſchen, Vernunft, Sprache und Bewußtſein, ſind aus den niederen Vor- ſtufen derſelben in der Reihe der Primaten-Ahnen (Affen und Halbaffen) hervorgegangen. Der Menſch beſitzt keine einzige „Geiſtesthätigkeit“, welche ihm ausſchließlich eigenthümlich iſt; ſein ganzes Seelenleben iſt von demjenigen der nächſtverwandten Säugethiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quanti- tativ, nicht qualitativ verſchieden. Den Leſer meines Buches, welcher ſich für dieſe hochwichtigen „Seelen-Fragen“ intereſſirt, verweiſe ich auf das grundlegende Werk von Romanes. Ich ſtimme faſt in allen Anſchauungen und Ueberzeugungen vollſtändig mit ihm und mit Darwin überein; wo ſich etwa ſcheinbare Unterſchiede zwiſchen dieſen Autoren und zwiſchen meinen früheren Ausführungen finden, da beruhen ſie entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form meinerſeits oder auf einem unbedeutenden Unterſchiede in der Anwendung der Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den charakteriſtiſchen Merkmalen dieſer „Begriffs-Wiſſenſchaft“, daß über ihre wichtigſten Grundbegriffe die angeſehenſten Philoſophen ganz verſchiedene Anſichten haben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/139
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/139>, abgerufen am 23.11.2024.