Vergleichung und blieb daher auf demselben niederen Standpunkt stehen, welchen die menschliche Morphologie einnahm, ehe sie Cuvier durch die Begründung der vergleichenden Anatomie zur Höhe einer "philosophischen Naturwissenschaft" erhob.
Thier-Psychologie. Das wissenschaftliche Interesse für das Seelenleben der Thiere wurde erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts neu belebt, im Zusammenhang mit den Fortschritten der systematischen Zoologie und Physiologie. Be- sonders anregend wirkte die Schrift von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (Hamburg 1760). In- dessen eine tiefere wissenschaftliche Erforschung wurde erst möglich durch die fundamentale Reform der Physiologie, welche wir dem großen Berliner Naturforscher Johannes Müller verdanken. Dieser geistvolle Biologe, das ganze Gebiet der organischen Natur, Morphologie und Physiologie gleichmäßig umfassend, führte zuerst die exakten Methoden der Beobachtung und des Versuchs im gesammten Gebiete der Physiologie durch und verknüpfte sie zugleich in genialer Weise mit den vergleichenden Me- thoden; er wendete dieselben ebenso auf das Seelenleben im weitesten Sinne an (auf Sprache, Sinne, Gehirnthätigkeit) wie auf alle übrigen Lebens-Erscheinungen. Das sechste Buch seines "Handbuchs der Physiologie des Menschen" (1840) handelt speciell "Vom Seelenleben" und enthält auf 80 Seiten eine Fülle der wichtigsten psychologischen Betrachtungen.
In den letzten vierzig Jahren ist eine große Anzahl von Schriften über vergleichende Psychologie der Thiere erschienen, großentheils veranlaßt durch den mächtigen Anstoß, welchen 1859 Charles Darwin durch sein Werk über den Ursprung der Arten gab, und durch die Einführung der Entwickelungs- Theorie in das psychologische Gebiet. Einige der wichtigsten dieser Schriften verdanken wir Romanes und J. Lubbock in England, W. Wundt, L. Büchner, G. Schneider,
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VI. Methoden der Thier-Pſychologie.
Vergleichung und blieb daher auf demſelben niederen Standpunkt ſtehen, welchen die menſchliche Morphologie einnahm, ehe ſie Cuvier durch die Begründung der vergleichenden Anatomie zur Höhe einer „philoſophiſchen Naturwiſſenſchaft“ erhob.
Thier-Pſychologie. Das wiſſenſchaftliche Intereſſe für das Seelenleben der Thiere wurde erſt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts neu belebt, im Zuſammenhang mit den Fortſchritten der ſyſtematiſchen Zoologie und Phyſiologie. Be- ſonders anregend wirkte die Schrift von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (Hamburg 1760). In- deſſen eine tiefere wiſſenſchaftliche Erforſchung wurde erſt möglich durch die fundamentale Reform der Phyſiologie, welche wir dem großen Berliner Naturforſcher Johannes Müller verdanken. Dieſer geiſtvolle Biologe, das ganze Gebiet der organiſchen Natur, Morphologie und Phyſiologie gleichmäßig umfaſſend, führte zuerſt die exakten Methoden der Beobachtung und des Verſuchs im geſammten Gebiete der Phyſiologie durch und verknüpfte ſie zugleich in genialer Weiſe mit den vergleichenden Me- thoden; er wendete dieſelben ebenſo auf das Seelenleben im weiteſten Sinne an (auf Sprache, Sinne, Gehirnthätigkeit) wie auf alle übrigen Lebens-Erſcheinungen. Das ſechſte Buch ſeines „Handbuchs der Phyſiologie des Menſchen“ (1840) handelt ſpeciell „Vom Seelenleben“ und enthält auf 80 Seiten eine Fülle der wichtigſten pſychologiſchen Betrachtungen.
In den letzten vierzig Jahren iſt eine große Anzahl von Schriften über vergleichende Pſychologie der Thiere erſchienen, großentheils veranlaßt durch den mächtigen Anſtoß, welchen 1859 Charles Darwin durch ſein Werk über den Urſprung der Arten gab, und durch die Einführung der Entwickelungs- Theorie in das pſychologiſche Gebiet. Einige der wichtigſten dieſer Schriften verdanken wir Romanes und J. Lubbock in England, W. Wundt, L. Büchner, G. Schneider,
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VI. Methoden der Thier-Pſychologie.
Vergleichung und blieb daher auf demſelben niederen Standpunkt
ſtehen, welchen die menſchliche Morphologie einnahm, ehe ſie
Cuvier durch die Begründung der vergleichenden Anatomie zur
Höhe einer „philoſophiſchen Naturwiſſenſchaft“ erhob.
Thier-Pſychologie. Das wiſſenſchaftliche Intereſſe für das
Seelenleben der Thiere wurde erſt in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts neu belebt, im Zuſammenhang mit den
Fortſchritten der ſyſtematiſchen Zoologie und Phyſiologie. Be-
ſonders anregend wirkte die Schrift von Reimarus: Allgemeine
Betrachtungen über die Triebe der Thiere (Hamburg 1760). In-
deſſen eine tiefere wiſſenſchaftliche Erforſchung wurde erſt möglich
durch die fundamentale Reform der Phyſiologie, welche wir dem
großen Berliner Naturforſcher Johannes Müller verdanken.
Dieſer geiſtvolle Biologe, das ganze Gebiet der organiſchen Natur,
Morphologie und Phyſiologie gleichmäßig umfaſſend, führte zuerſt
die exakten Methoden der Beobachtung und des Verſuchs
im geſammten Gebiete der Phyſiologie durch und verknüpfte ſie
zugleich in genialer Weiſe mit den vergleichenden Me-
thoden; er wendete dieſelben ebenſo auf das Seelenleben im
weiteſten Sinne an (auf Sprache, Sinne, Gehirnthätigkeit) wie
auf alle übrigen Lebens-Erſcheinungen. Das ſechſte Buch ſeines
„Handbuchs der Phyſiologie des Menſchen“ (1840) handelt
ſpeciell „Vom Seelenleben“ und enthält auf 80 Seiten eine
Fülle der wichtigſten pſychologiſchen Betrachtungen.
In den letzten vierzig Jahren iſt eine große Anzahl von
Schriften über vergleichende Pſychologie der Thiere erſchienen,
großentheils veranlaßt durch den mächtigen Anſtoß, welchen 1859
Charles Darwin durch ſein Werk über den Urſprung der
Arten gab, und durch die Einführung der Entwickelungs-
Theorie in das pſychologiſche Gebiet. Einige der wichtigſten
dieſer Schriften verdanken wir Romanes und J. Lubbock
in England, W. Wundt, L. Büchner, G. Schneider,
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/131>, abgerufen am 23.11.2024.
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