Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.VI. Methoden der objektiven Psychologie. philosophischer Irrthümer geworden (vergl. Kap. 10). Es istaber ganz ungenügend und führt zu ganz unvollkommenen und falschen Vorstellungen, wenn man diese Selbstbeobachtung unseres Geistes als die wichtigste oder überhaupt als die einzige Quelle seiner Erkenntniß betrachtet, wie es von zahlreichen und an- gesehenen Philosophen geschehen ist. Denn ein großer Theil der wichtigsten Erscheinungen im Seelenleben, vor Allem die Sinnes-Funktionen (Sehen, Hören, Riechen u. s. w.), ferner die Sprache, kann nur auf demselben Wege erforscht werden wie jede andere Lebensthätigkeit des Organismus, näm- lich erstens durch gründliche anatomische Untersuchung ihrer Organe, und zweitens durch exakte physiologische Analyse der davon abhängigen Funktionen. Um diese "äußere Beob- achtung" der Seelenthätigkeit auszuführen und dadurch die Er- gebnisse der "inneren Beobachtung" zu ergänzen, bedarf es aber gründlicher Kenntnisse in Anatomie und Histologie, Ontogenie und Physiologie des Menschen. Von diesen unentbehrlichen Grundlagen der Anthropologie haben nun die meisten sogenannten "Psychologen" gar keine oder nur höchst unvollkommene Kenntniß; sie sind daher nicht im Stande, auch nur von ihrer eigenen Seele eine genügende Vorstellung zu erwerben. Dazu kommt noch der schlimme Umstand, daß die hochverehrte eigene Seele dieser Psychologen gewöhnlich die einseitig ausgebildete (wenn auch in ihrem spekulativen Sport sehr hoch entwickelte Psyche!) eines Kulturmenschen höchster Rasse darstellt, also das letzte Endglied einer langen phyletischen Entwickelungs- reihe, deren zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr richtiges Verständniß unentbehrlich sind. So erklärt es sich, daß der größte Theil der gewaltigen psychologischen Literatur heute werthlose Makulatur ist. Die introspektive Methode ist gewiß höchst werthvoll und unentbehrlich, sie bedarf aber durchaus der Mitwirkung und Ergänzung durch die übrigen Methoden 3. VI. Methoden der objektiven Pſychologie. philoſophiſcher Irrthümer geworden (vergl. Kap. 10). Es iſtaber ganz ungenügend und führt zu ganz unvollkommenen und falſchen Vorſtellungen, wenn man dieſe Selbſtbeobachtung unſeres Geiſtes als die wichtigſte oder überhaupt als die einzige Quelle ſeiner Erkenntniß betrachtet, wie es von zahlreichen und an- geſehenen Philoſophen geſchehen iſt. Denn ein großer Theil der wichtigſten Erſcheinungen im Seelenleben, vor Allem die Sinnes-Funktionen (Sehen, Hören, Riechen u. ſ. w.), ferner die Sprache, kann nur auf demſelben Wege erforſcht werden wie jede andere Lebensthätigkeit des Organismus, näm- lich erſtens durch gründliche anatomiſche Unterſuchung ihrer Organe, und zweitens durch exakte phyſiologiſche Analyſe der davon abhängigen Funktionen. Um dieſe „äußere Beob- achtung“ der Seelenthätigkeit auszuführen und dadurch die Er- gebniſſe der „inneren Beobachtung“ zu ergänzen, bedarf es aber gründlicher Kenntniſſe in Anatomie und Hiſtologie, Ontogenie und Phyſiologie des Menſchen. Von dieſen unentbehrlichen Grundlagen der Anthropologie haben nun die meiſten ſogenannten „Pſychologen“ gar keine oder nur höchſt unvollkommene Kenntniß; ſie ſind daher nicht im Stande, auch nur von ihrer eigenen Seele eine genügende Vorſtellung zu erwerben. Dazu kommt noch der ſchlimme Umſtand, daß die hochverehrte eigene Seele dieſer Pſychologen gewöhnlich die einſeitig ausgebildete (wenn auch in ihrem ſpekulativen Sport ſehr hoch entwickelte Pſyche!) eines Kulturmenſchen höchſter Raſſe darſtellt, alſo das letzte Endglied einer langen phyletiſchen Entwickelungs- reihe, deren zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr richtiges Verſtändniß unentbehrlich ſind. So erklärt es ſich, daß der größte Theil der gewaltigen pſychologiſchen Literatur heute werthloſe Makulatur iſt. Die introſpektive Methode iſt gewiß höchſt werthvoll und unentbehrlich, ſie bedarf aber durchaus der Mitwirkung und Ergänzung durch die übrigen Methoden 3. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0127" n="111"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Methoden der objektiven Pſychologie.</fw><lb/> philoſophiſcher Irrthümer geworden (vergl. Kap. 10). Es iſt<lb/> aber ganz ungenügend und führt zu ganz unvollkommenen und<lb/> falſchen Vorſtellungen, wenn man dieſe Selbſtbeobachtung unſeres<lb/> Geiſtes als die wichtigſte oder überhaupt als die einzige Quelle<lb/> ſeiner Erkenntniß betrachtet, wie es von zahlreichen und an-<lb/> geſehenen Philoſophen geſchehen iſt. Denn ein großer Theil der<lb/> wichtigſten Erſcheinungen im Seelenleben, vor Allem die<lb/><hi rendition="#g">Sinnes-Funktionen</hi> (Sehen, Hören, Riechen u. ſ. w.),<lb/> ferner die <hi rendition="#g">Sprache,</hi> kann nur auf demſelben Wege erforſcht<lb/> werden wie jede andere Lebensthätigkeit des Organismus, näm-<lb/> lich erſtens durch gründliche anatomiſche Unterſuchung ihrer<lb/><hi rendition="#g">Organe,</hi> und zweitens durch exakte phyſiologiſche Analyſe der<lb/> davon abhängigen <hi rendition="#g">Funktionen</hi>. Um dieſe „äußere Beob-<lb/> achtung“ der Seelenthätigkeit auszuführen und dadurch die Er-<lb/> gebniſſe der „inneren Beobachtung“ zu ergänzen, bedarf es aber<lb/> gründlicher Kenntniſſe in Anatomie und Hiſtologie, Ontogenie<lb/> und Phyſiologie des Menſchen. Von dieſen unentbehrlichen<lb/> Grundlagen der Anthropologie haben nun die meiſten ſogenannten<lb/> „<hi rendition="#g">Pſychologen</hi>“ gar keine oder nur höchſt unvollkommene<lb/> Kenntniß; ſie ſind daher nicht im Stande, auch nur von ihrer<lb/> eigenen Seele eine genügende Vorſtellung zu erwerben. Dazu<lb/> kommt noch der ſchlimme Umſtand, daß die hochverehrte eigene<lb/> Seele dieſer Pſychologen gewöhnlich die einſeitig ausgebildete<lb/> (wenn auch in ihrem ſpekulativen Sport ſehr hoch entwickelte<lb/> Pſyche!) eines <hi rendition="#g">Kulturmenſchen</hi> höchſter Raſſe darſtellt, alſo<lb/> das letzte <hi rendition="#g">Endglied</hi> einer langen phyletiſchen Entwickelungs-<lb/> reihe, deren zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr<lb/> richtiges Verſtändniß unentbehrlich ſind. So erklärt es ſich, daß<lb/> der größte Theil der gewaltigen pſychologiſchen Literatur heute<lb/> werthloſe Makulatur iſt. Die introſpektive Methode iſt gewiß<lb/> höchſt werthvoll und unentbehrlich, ſie bedarf aber durchaus der<lb/> Mitwirkung und Ergänzung durch die übrigen Methoden <note xml:id="end3" next="#end02_3" place="end" n="3"/>.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [111/0127]
VI. Methoden der objektiven Pſychologie.
philoſophiſcher Irrthümer geworden (vergl. Kap. 10). Es iſt
aber ganz ungenügend und führt zu ganz unvollkommenen und
falſchen Vorſtellungen, wenn man dieſe Selbſtbeobachtung unſeres
Geiſtes als die wichtigſte oder überhaupt als die einzige Quelle
ſeiner Erkenntniß betrachtet, wie es von zahlreichen und an-
geſehenen Philoſophen geſchehen iſt. Denn ein großer Theil der
wichtigſten Erſcheinungen im Seelenleben, vor Allem die
Sinnes-Funktionen (Sehen, Hören, Riechen u. ſ. w.),
ferner die Sprache, kann nur auf demſelben Wege erforſcht
werden wie jede andere Lebensthätigkeit des Organismus, näm-
lich erſtens durch gründliche anatomiſche Unterſuchung ihrer
Organe, und zweitens durch exakte phyſiologiſche Analyſe der
davon abhängigen Funktionen. Um dieſe „äußere Beob-
achtung“ der Seelenthätigkeit auszuführen und dadurch die Er-
gebniſſe der „inneren Beobachtung“ zu ergänzen, bedarf es aber
gründlicher Kenntniſſe in Anatomie und Hiſtologie, Ontogenie
und Phyſiologie des Menſchen. Von dieſen unentbehrlichen
Grundlagen der Anthropologie haben nun die meiſten ſogenannten
„Pſychologen“ gar keine oder nur höchſt unvollkommene
Kenntniß; ſie ſind daher nicht im Stande, auch nur von ihrer
eigenen Seele eine genügende Vorſtellung zu erwerben. Dazu
kommt noch der ſchlimme Umſtand, daß die hochverehrte eigene
Seele dieſer Pſychologen gewöhnlich die einſeitig ausgebildete
(wenn auch in ihrem ſpekulativen Sport ſehr hoch entwickelte
Pſyche!) eines Kulturmenſchen höchſter Raſſe darſtellt, alſo
das letzte Endglied einer langen phyletiſchen Entwickelungs-
reihe, deren zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr
richtiges Verſtändniß unentbehrlich ſind. So erklärt es ſich, daß
der größte Theil der gewaltigen pſychologiſchen Literatur heute
werthloſe Makulatur iſt. Die introſpektive Methode iſt gewiß
höchſt werthvoll und unentbehrlich, ſie bedarf aber durchaus der
Mitwirkung und Ergänzung durch die übrigen Methoden
³
.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |