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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Unsere Abstammung von Zottenthieren. V.
Funde von zahlreichen ausgestorbenen Säugethieren der Tertiär-
Zeit in den Stand gesetzt, die Stammesgeschichte dieser wichtigsten
Thierklasse, von den niedersten, eierlegenden Monotremen bis zum
Menschen hinauf, in ihren Grundzügen klarzulegen. Die vier
Hauptgruppen der Zottenthiere oder Placentalia, die formen-
reichen Legionen der Raubthiere, Nagethiere, Hufthiere und
Herrenthiere, erscheinen durch tiefe Klüfte getrennt, wenn wir
nur die heute noch lebenden Epigonen als Vertreter derselben
in's Auge fassen. Diese Klüfte werden aber vollkommen ausgefüllt
und die scharfen Unterschiede der vier Legionen gänzlich ver-
wischt, wenn wir ihre tertiären, ausgestorbenen Vorfahren ver-
gleichen, und wenn wir bis in die eocäne Geschichts-Dämmerung
der ältesten Tertiär-Zeit hinabsteigen (mindestens drei Millionen
Jahre zurückliegend!). Da finden wir die große Unterklasse der
Zottenthiere, die heute mehr als 2500 Arten umfaßt, nur durch
eine geringe Zahl von kleinen und unbedeutenden "Urzotten-
thieren" vertreten; und in diesen Prochoriaten erscheinen die
Charaktere jener vier divergenten Legionen so gemischt und ver-
wischt, daß wir sie vernünftiger Weise nur als gemeinsame
Vorfahren
derselben deuten können. Die ältesten Raubthiere
(Ictopsales), die ältesten Nagethiere (Esthonychales), die ältesten
Hufthiere (Condylarthrales) und die ältesten Herrenthiere (Le-
muravales)
besitzen alle im Wesentlichen dieselbe Bildung des
Knochen-Gerüstes und dasselbe typische Gebiß der ursprüng-
lichen Placentalien mit 44 Zähnen (in jeder Kieferhälfte drei
Schneidezähne, ein Eckzahn, vier Lückenzähne und drei Mahl-
zähne); sie zeichnen sich alle durch die geringe Größe und die
unvollkommene Bildung ihres Gehirns aus (besonders des wich-
tigsten Theiles, der Großhirnrinde, die sich erst später bei den
miocänen und pliocänen Epigonen zum wahren "Denkorgane"
entwickelt hat!); sie haben alle kurze Beine und fünfzehige Füße,
die mit der flachen Sohle auftreten (Plantigrada). Bei manchen

Unſere Abſtammung von Zottenthieren. V.
Funde von zahlreichen ausgeſtorbenen Säugethieren der Tertiär-
Zeit in den Stand geſetzt, die Stammesgeſchichte dieſer wichtigſten
Thierklaſſe, von den niederſten, eierlegenden Monotremen bis zum
Menſchen hinauf, in ihren Grundzügen klarzulegen. Die vier
Hauptgruppen der Zottenthiere oder Placentalia, die formen-
reichen Legionen der Raubthiere, Nagethiere, Hufthiere und
Herrenthiere, erſcheinen durch tiefe Klüfte getrennt, wenn wir
nur die heute noch lebenden Epigonen als Vertreter derſelben
in's Auge faſſen. Dieſe Klüfte werden aber vollkommen ausgefüllt
und die ſcharfen Unterſchiede der vier Legionen gänzlich ver-
wiſcht, wenn wir ihre tertiären, ausgeſtorbenen Vorfahren ver-
gleichen, und wenn wir bis in die eocäne Geſchichts-Dämmerung
der älteſten Tertiär-Zeit hinabſteigen (mindeſtens drei Millionen
Jahre zurückliegend!). Da finden wir die große Unterklaſſe der
Zottenthiere, die heute mehr als 2500 Arten umfaßt, nur durch
eine geringe Zahl von kleinen und unbedeutenden „Urzotten-
thieren“ vertreten; und in dieſen Prochoriaten erſcheinen die
Charaktere jener vier divergenten Legionen ſo gemiſcht und ver-
wiſcht, daß wir ſie vernünftiger Weiſe nur als gemeinſame
Vorfahren
derſelben deuten können. Die älteſten Raubthiere
(Ictopſaleſ), die älteſten Nagethiere (Eſthonychaleſ), die älteſten
Hufthiere (Condylarthraleſ) und die älteſten Herrenthiere (Le-
muravaleſ)
beſitzen alle im Weſentlichen dieſelbe Bildung des
Knochen-Gerüſtes und daſſelbe typiſche Gebiß der urſprüng-
lichen Placentalien mit 44 Zähnen (in jeder Kieferhälfte drei
Schneidezähne, ein Eckzahn, vier Lückenzähne und drei Mahl-
zähne); ſie zeichnen ſich alle durch die geringe Größe und die
unvollkommene Bildung ihres Gehirns aus (beſonders des wich-
tigſten Theiles, der Großhirnrinde, die ſich erſt ſpäter bei den
miocänen und pliocänen Epigonen zum wahren „Denkorgane“
entwickelt hat!); ſie haben alle kurze Beine und fünfzehige Füße,
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[98/0114] Unſere Abſtammung von Zottenthieren. V. Funde von zahlreichen ausgeſtorbenen Säugethieren der Tertiär- Zeit in den Stand geſetzt, die Stammesgeſchichte dieſer wichtigſten Thierklaſſe, von den niederſten, eierlegenden Monotremen bis zum Menſchen hinauf, in ihren Grundzügen klarzulegen. Die vier Hauptgruppen der Zottenthiere oder Placentalia, die formen- reichen Legionen der Raubthiere, Nagethiere, Hufthiere und Herrenthiere, erſcheinen durch tiefe Klüfte getrennt, wenn wir nur die heute noch lebenden Epigonen als Vertreter derſelben in's Auge faſſen. Dieſe Klüfte werden aber vollkommen ausgefüllt und die ſcharfen Unterſchiede der vier Legionen gänzlich ver- wiſcht, wenn wir ihre tertiären, ausgeſtorbenen Vorfahren ver- gleichen, und wenn wir bis in die eocäne Geſchichts-Dämmerung der älteſten Tertiär-Zeit hinabſteigen (mindeſtens drei Millionen Jahre zurückliegend!). Da finden wir die große Unterklaſſe der Zottenthiere, die heute mehr als 2500 Arten umfaßt, nur durch eine geringe Zahl von kleinen und unbedeutenden „Urzotten- thieren“ vertreten; und in dieſen Prochoriaten erſcheinen die Charaktere jener vier divergenten Legionen ſo gemiſcht und ver- wiſcht, daß wir ſie vernünftiger Weiſe nur als gemeinſame Vorfahren derſelben deuten können. Die älteſten Raubthiere (Ictopſaleſ), die älteſten Nagethiere (Eſthonychaleſ), die älteſten Hufthiere (Condylarthraleſ) und die älteſten Herrenthiere (Le- muravaleſ) beſitzen alle im Weſentlichen dieſelbe Bildung des Knochen-Gerüſtes und daſſelbe typiſche Gebiß der urſprüng- lichen Placentalien mit 44 Zähnen (in jeder Kieferhälfte drei Schneidezähne, ein Eckzahn, vier Lückenzähne und drei Mahl- zähne); ſie zeichnen ſich alle durch die geringe Größe und die unvollkommene Bildung ihres Gehirns aus (beſonders des wich- tigſten Theiles, der Großhirnrinde, die ſich erſt ſpäter bei den miocänen und pliocänen Epigonen zum wahren „Denkorgane“ entwickelt hat!); ſie haben alle kurze Beine und fünfzehige Füße, die mit der flachen Sohle auftreten (Plantigrada). Bei manchen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/114>, abgerufen am 23.11.2024.