So hatte sich schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts, im Gegensatz gegen Linne's rein empirische Schule, eine naturphilosophische Re- action erhoben, deren bewegende Geister, Lamarck, Geoffroy S. Hilaire, Goethe und Oken, durch ihre Gedankenarbeit Licht und Ordnung in das Chaos des aufgehäuften empirischen Rohmate- rials brachten. Gegenüber den vielfachen Jrrthümern und den zu weit gehenden Spekulationen dieser Naturphilosophen trat dann Cu- vier auf, welcher eine zweite, rein empirische Periode herbeiführte. Diese erreichte ihre einseitigste Entwickelung während der Jahre 1830 -- 1860, und nun folgte ein zweiter philosophischer Rückschlag, durch Darwins Werk veranlaßt. Man fing nun in unserm Decennium wieder an, sich zur Erkenntniß der allgemeinen Naturgesetze hinzuwen- den, denen doch schließlich alle einzelnen Erfahrungskenntnisse nur als Grundlage dienen, und durch welche letztere erst Werth erlangen. Durch die Philosophie wird die Naturkunde erst zur wahren Wissen- schaft, zur "Naturphilosophie" (Gen. Morph. I, 63--108).
Unter den großen Naturphilosophen, denen wir die erste Be- gründung einer organischen Entwickelungstheorie verdanken, und welche neben Charles Darwin als die Urheber der Abstammungs- lehre glänzen, stehen obenan Jean Lamarck und Wolfgang Goethe. Jedes der drei großen Kulturländer der Neuzeit, Deutsch- land, England und Frankreich, hat einen geistvollen Naturforscher zur Lösung dieser hohen Aufgabe entsandt. Jch wende mich zunächst zu unserm theuren Goethe, welcher von Allen uns Deutschen am nächsten steht. Bevor ich Jhnen jedoch seine besonderen Verdienste um die Entwickelungstheorie erläutere, scheint es mir passend, Eini- ges über seine Bedeutung als Naturforscher überhaupt zu sagen, da dieselbe gewöhnlich sehr verkannt wird.
Gewiß die Meisten unter Jhnen verehren Goethe nur als Dich- ter und Menschen; nur Wenige werden eine Vorstellung von dem ho- hen Werth haben, den seine naturwissenschaftlichen Arbeiten besitzen, von dem Riesenschritt, mit dem er seiner Zeit vorauseilte, -- so vor- auseilte, daß eben die meisten Naturforscher der damaligen Zeit ihm
Empirie und Philoſophie.
So hatte ſich ſchon zu Ende des vorigen Jahrhunderts, im Gegenſatz gegen Linné’s rein empiriſche Schule, eine naturphiloſophiſche Re- action erhoben, deren bewegende Geiſter, Lamarck, Geoffroy S. Hilaire, Goethe und Oken, durch ihre Gedankenarbeit Licht und Ordnung in das Chaos des aufgehaͤuften empiriſchen Rohmate- rials brachten. Gegenuͤber den vielfachen Jrrthuͤmern und den zu weit gehenden Spekulationen dieſer Naturphiloſophen trat dann Cu- vier auf, welcher eine zweite, rein empiriſche Periode herbeifuͤhrte. Dieſe erreichte ihre einſeitigſte Entwickelung waͤhrend der Jahre 1830 — 1860, und nun folgte ein zweiter philoſophiſcher Ruͤckſchlag, durch Darwins Werk veranlaßt. Man fing nun in unſerm Decennium wieder an, ſich zur Erkenntniß der allgemeinen Naturgeſetze hinzuwen- den, denen doch ſchließlich alle einzelnen Erfahrungskenntniſſe nur als Grundlage dienen, und durch welche letztere erſt Werth erlangen. Durch die Philoſophie wird die Naturkunde erſt zur wahren Wiſſen- ſchaft, zur „Naturphiloſophie“ (Gen. Morph. I, 63—108).
Unter den großen Naturphiloſophen, denen wir die erſte Be- gruͤndung einer organiſchen Entwickelungstheorie verdanken, und welche neben Charles Darwin als die Urheber der Abſtammungs- lehre glaͤnzen, ſtehen obenan Jean Lamarck und Wolfgang Goethe. Jedes der drei großen Kulturlaͤnder der Neuzeit, Deutſch- land, England und Frankreich, hat einen geiſtvollen Naturforſcher zur Loͤſung dieſer hohen Aufgabe entſandt. Jch wende mich zunaͤchſt zu unſerm theuren Goethe, welcher von Allen uns Deutſchen am naͤchſten ſteht. Bevor ich Jhnen jedoch ſeine beſonderen Verdienſte um die Entwickelungstheorie erlaͤutere, ſcheint es mir paſſend, Eini- ges uͤber ſeine Bedeutung als Naturforſcher uͤberhaupt zu ſagen, da dieſelbe gewoͤhnlich ſehr verkannt wird.
Gewiß die Meiſten unter Jhnen verehren Goethe nur als Dich- ter und Menſchen; nur Wenige werden eine Vorſtellung von dem ho- hen Werth haben, den ſeine naturwiſſenſchaftlichen Arbeiten beſitzen, von dem Rieſenſchritt, mit dem er ſeiner Zeit vorauseilte, — ſo vor- auseilte, daß eben die meiſten Naturforſcher der damaligen Zeit ihm
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Empirie und Philoſophie.
So hatte ſich ſchon zu Ende des vorigen Jahrhunderts, im Gegenſatz
gegen Linné’s rein empiriſche Schule, eine naturphiloſophiſche Re-
action erhoben, deren bewegende Geiſter, Lamarck, Geoffroy
S. Hilaire, Goethe und Oken, durch ihre Gedankenarbeit Licht
und Ordnung in das Chaos des aufgehaͤuften empiriſchen Rohmate-
rials brachten. Gegenuͤber den vielfachen Jrrthuͤmern und den zu
weit gehenden Spekulationen dieſer Naturphiloſophen trat dann Cu-
vier auf, welcher eine zweite, rein empiriſche Periode herbeifuͤhrte.
Dieſe erreichte ihre einſeitigſte Entwickelung waͤhrend der Jahre 1830
— 1860, und nun folgte ein zweiter philoſophiſcher Ruͤckſchlag, durch
Darwins Werk veranlaßt. Man fing nun in unſerm Decennium
wieder an, ſich zur Erkenntniß der allgemeinen Naturgeſetze hinzuwen-
den, denen doch ſchließlich alle einzelnen Erfahrungskenntniſſe nur als
Grundlage dienen, und durch welche letztere erſt Werth erlangen.
Durch die Philoſophie wird die Naturkunde erſt zur wahren Wiſſen-
ſchaft, zur „Naturphiloſophie“ (Gen. Morph. I, 63—108).
Unter den großen Naturphiloſophen, denen wir die erſte Be-
gruͤndung einer organiſchen Entwickelungstheorie verdanken, und
welche neben Charles Darwin als die Urheber der Abſtammungs-
lehre glaͤnzen, ſtehen obenan Jean Lamarck und Wolfgang
Goethe. Jedes der drei großen Kulturlaͤnder der Neuzeit, Deutſch-
land, England und Frankreich, hat einen geiſtvollen Naturforſcher
zur Loͤſung dieſer hohen Aufgabe entſandt. Jch wende mich zunaͤchſt
zu unſerm theuren Goethe, welcher von Allen uns Deutſchen am
naͤchſten ſteht. Bevor ich Jhnen jedoch ſeine beſonderen Verdienſte
um die Entwickelungstheorie erlaͤutere, ſcheint es mir paſſend, Eini-
ges uͤber ſeine Bedeutung als Naturforſcher uͤberhaupt zu ſagen, da
dieſelbe gewoͤhnlich ſehr verkannt wird.
Gewiß die Meiſten unter Jhnen verehren Goethe nur als Dich-
ter und Menſchen; nur Wenige werden eine Vorſtellung von dem ho-
hen Werth haben, den ſeine naturwiſſenſchaftlichen Arbeiten beſitzen,
von dem Rieſenſchritt, mit dem er ſeiner Zeit vorauseilte, — ſo vor-
auseilte, daß eben die meiſten Naturforſcher der damaligen Zeit ihm
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/87>, abgerufen am 24.07.2024.
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