stammung behaupteten, vertraten gleichzeitig in Deutschland Goe- the und Oken dieselbe Richtung und halfen die Entwickelungstheorie begründen. Da man gewöhnlich alle diese Naturforscher als "Na- turphilosophen" zu bezeichnen pflegt, und da diese vieldeutige Be- zeichnung in einem gewissen Sinne ganz richtig ist, so erscheint es mir zunächst angemessen, hier einige Worte über die richtige Würdigung der Naturphilosophie vorauszuschicken.
Während man in England schon seit langer Zeit die Begriffe Naturwissenschaft und Philosophie fast als gleichbedeutend ansieht, und mit vollem Recht jeden wahrhaft wissenschaftlich arbeitenden Natur- forscher einen Naturphilosophen nennt, wird dagegen in Deutschland schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die Naturwissenschaft streng von der Philosophie geschieden, und die naturgemäße Verbin- dung beider zu einer wahren "Naturphilosophie" wird nur von We- nigen anerkannt. An dieser Verkennung sind die phantastischen Aus- schreitungen der früheren deutschen Naturphilosophen, Okens, Schel- lings u. s. w. Schuld, welche glaubten, die Naturgesetze aus ihrem Kopfe konstruiren zu können, ohne überall auf dem Boden der that- sächlichen Erfahrung stehen bleiben zu müssen. Als sich diese Anma- ßungen in ihrer ganzen Leerheit herausgestellt hatten, schlugen die Naturforscher unter der "Nation von Denkern" in das gerade Gegen- theil um, und glaubten, das hohe Ziel der Wissenschaft, die Erkennt- niß der Wahrheit, auf dem Wege der nackten sinnlichen Erfahrung, ohne jede philosophische Gedankenarbeit erreichen zu können. Von nun an, besonders seit dem Jahre 1830, machte sich bei den meisten Naturforschern eine starke Abneigung gegen jede allgemeinere, philo- sophische Betrachtung der Natur geltend. Man fand nun das eigent- liche Ziel der Naturwissenschaft in der Erkenntniß des Einzelnen und glaubte dasselbe in der Biologie erreicht, wenn man mit Hülfe der feinsten Jnstrumente und Beobachtungsmittel die Formen und die Le- benserscheinungen aller einzelnen Organismen ganz genau erkannt ha- ben würde. Zwar gab es immerhin unter diesen streng empirischen oder sogenannten exakten Naturforschern zahlreiche, welche sich über
Bedeutung der Naturphiloſophie.
ſtammung behaupteten, vertraten gleichzeitig in Deutſchland Goe- the und Oken dieſelbe Richtung und halfen die Entwickelungstheorie begruͤnden. Da man gewoͤhnlich alle dieſe Naturforſcher als „Na- turphiloſophen“ zu bezeichnen pflegt, und da dieſe vieldeutige Be- zeichnung in einem gewiſſen Sinne ganz richtig iſt, ſo erſcheint es mir zunaͤchſt angemeſſen, hier einige Worte uͤber die richtige Wuͤrdigung der Naturphiloſophie vorauszuſchicken.
Waͤhrend man in England ſchon ſeit langer Zeit die Begriffe Naturwiſſenſchaft und Philoſophie faſt als gleichbedeutend anſieht, und mit vollem Recht jeden wahrhaft wiſſenſchaftlich arbeitenden Natur- forſcher einen Naturphiloſophen nennt, wird dagegen in Deutſchland ſchon ſeit mehr als einem halben Jahrhundert die Naturwiſſenſchaft ſtreng von der Philoſophie geſchieden, und die naturgemaͤße Verbin- dung beider zu einer wahren „Naturphiloſophie“ wird nur von We- nigen anerkannt. An dieſer Verkennung ſind die phantaſtiſchen Aus- ſchreitungen der fruͤheren deutſchen Naturphiloſophen, Okens, Schel- lings u. ſ. w. Schuld, welche glaubten, die Naturgeſetze aus ihrem Kopfe konſtruiren zu koͤnnen, ohne uͤberall auf dem Boden der that- ſaͤchlichen Erfahrung ſtehen bleiben zu muͤſſen. Als ſich dieſe Anma- ßungen in ihrer ganzen Leerheit herausgeſtellt hatten, ſchlugen die Naturforſcher unter der „Nation von Denkern“ in das gerade Gegen- theil um, und glaubten, das hohe Ziel der Wiſſenſchaft, die Erkennt- niß der Wahrheit, auf dem Wege der nackten ſinnlichen Erfahrung, ohne jede philoſophiſche Gedankenarbeit erreichen zu koͤnnen. Von nun an, beſonders ſeit dem Jahre 1830, machte ſich bei den meiſten Naturforſchern eine ſtarke Abneigung gegen jede allgemeinere, philo- ſophiſche Betrachtung der Natur geltend. Man fand nun das eigent- liche Ziel der Naturwiſſenſchaft in der Erkenntniß des Einzelnen und glaubte daſſelbe in der Biologie erreicht, wenn man mit Huͤlfe der feinſten Jnſtrumente und Beobachtungsmittel die Formen und die Le- benserſcheinungen aller einzelnen Organismen ganz genau erkannt ha- ben wuͤrde. Zwar gab es immerhin unter dieſen ſtreng empiriſchen oder ſogenannten exakten Naturforſchern zahlreiche, welche ſich uͤber
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0085"n="64"/><fwplace="top"type="header">Bedeutung der Naturphiloſophie.</fw><lb/>ſtammung behaupteten, vertraten gleichzeitig in Deutſchland <hirendition="#g">Goe-<lb/>
the</hi> und <hirendition="#g">Oken</hi> dieſelbe Richtung und halfen die Entwickelungstheorie<lb/>
begruͤnden. Da man gewoͤhnlich alle dieſe Naturforſcher als „<hirendition="#g">Na-<lb/>
turphiloſophen</hi>“ zu bezeichnen pflegt, und da dieſe vieldeutige Be-<lb/>
zeichnung in einem gewiſſen Sinne ganz richtig iſt, ſo erſcheint es mir<lb/>
zunaͤchſt angemeſſen, hier einige Worte uͤber die richtige Wuͤrdigung<lb/>
der Naturphiloſophie vorauszuſchicken.</p><lb/><p>Waͤhrend man in England ſchon ſeit langer Zeit die Begriffe<lb/>
Naturwiſſenſchaft und Philoſophie faſt als gleichbedeutend anſieht, und<lb/>
mit vollem Recht jeden wahrhaft wiſſenſchaftlich arbeitenden Natur-<lb/>
forſcher einen Naturphiloſophen nennt, wird dagegen in Deutſchland<lb/>ſchon ſeit mehr als einem halben Jahrhundert die Naturwiſſenſchaft<lb/>ſtreng von der Philoſophie geſchieden, und die naturgemaͤße Verbin-<lb/>
dung beider zu einer wahren „Naturphiloſophie“ wird nur von We-<lb/>
nigen anerkannt. An dieſer Verkennung ſind die phantaſtiſchen Aus-<lb/>ſchreitungen der fruͤheren deutſchen Naturphiloſophen, <hirendition="#g">Okens, Schel-<lb/>
lings</hi> u. ſ. w. Schuld, welche glaubten, die Naturgeſetze aus ihrem<lb/>
Kopfe konſtruiren zu koͤnnen, ohne uͤberall auf dem Boden der that-<lb/>ſaͤchlichen Erfahrung ſtehen bleiben zu muͤſſen. Als ſich dieſe Anma-<lb/>
ßungen in ihrer ganzen Leerheit herausgeſtellt hatten, ſchlugen die<lb/>
Naturforſcher unter der „Nation von Denkern“ in das gerade Gegen-<lb/>
theil um, und glaubten, das hohe Ziel der Wiſſenſchaft, die Erkennt-<lb/>
niß der Wahrheit, auf dem Wege der nackten ſinnlichen Erfahrung,<lb/>
ohne jede philoſophiſche Gedankenarbeit erreichen zu koͤnnen. Von<lb/>
nun an, beſonders ſeit dem Jahre 1830, machte ſich bei den meiſten<lb/>
Naturforſchern eine ſtarke Abneigung gegen jede allgemeinere, philo-<lb/>ſophiſche Betrachtung der Natur geltend. Man fand nun das eigent-<lb/>
liche Ziel der Naturwiſſenſchaft in der Erkenntniß des Einzelnen und<lb/>
glaubte daſſelbe in der Biologie erreicht, wenn man mit Huͤlfe der<lb/>
feinſten Jnſtrumente und Beobachtungsmittel die Formen und die Le-<lb/>
benserſcheinungen aller einzelnen Organismen ganz genau erkannt ha-<lb/>
ben wuͤrde. Zwar gab es immerhin unter dieſen ſtreng empiriſchen<lb/>
oder ſogenannten exakten Naturforſchern zahlreiche, welche ſich uͤber<lb/></p></div></body></text></TEI>
[64/0085]
Bedeutung der Naturphiloſophie.
ſtammung behaupteten, vertraten gleichzeitig in Deutſchland Goe-
the und Oken dieſelbe Richtung und halfen die Entwickelungstheorie
begruͤnden. Da man gewoͤhnlich alle dieſe Naturforſcher als „Na-
turphiloſophen“ zu bezeichnen pflegt, und da dieſe vieldeutige Be-
zeichnung in einem gewiſſen Sinne ganz richtig iſt, ſo erſcheint es mir
zunaͤchſt angemeſſen, hier einige Worte uͤber die richtige Wuͤrdigung
der Naturphiloſophie vorauszuſchicken.
Waͤhrend man in England ſchon ſeit langer Zeit die Begriffe
Naturwiſſenſchaft und Philoſophie faſt als gleichbedeutend anſieht, und
mit vollem Recht jeden wahrhaft wiſſenſchaftlich arbeitenden Natur-
forſcher einen Naturphiloſophen nennt, wird dagegen in Deutſchland
ſchon ſeit mehr als einem halben Jahrhundert die Naturwiſſenſchaft
ſtreng von der Philoſophie geſchieden, und die naturgemaͤße Verbin-
dung beider zu einer wahren „Naturphiloſophie“ wird nur von We-
nigen anerkannt. An dieſer Verkennung ſind die phantaſtiſchen Aus-
ſchreitungen der fruͤheren deutſchen Naturphiloſophen, Okens, Schel-
lings u. ſ. w. Schuld, welche glaubten, die Naturgeſetze aus ihrem
Kopfe konſtruiren zu koͤnnen, ohne uͤberall auf dem Boden der that-
ſaͤchlichen Erfahrung ſtehen bleiben zu muͤſſen. Als ſich dieſe Anma-
ßungen in ihrer ganzen Leerheit herausgeſtellt hatten, ſchlugen die
Naturforſcher unter der „Nation von Denkern“ in das gerade Gegen-
theil um, und glaubten, das hohe Ziel der Wiſſenſchaft, die Erkennt-
niß der Wahrheit, auf dem Wege der nackten ſinnlichen Erfahrung,
ohne jede philoſophiſche Gedankenarbeit erreichen zu koͤnnen. Von
nun an, beſonders ſeit dem Jahre 1830, machte ſich bei den meiſten
Naturforſchern eine ſtarke Abneigung gegen jede allgemeinere, philo-
ſophiſche Betrachtung der Natur geltend. Man fand nun das eigent-
liche Ziel der Naturwiſſenſchaft in der Erkenntniß des Einzelnen und
glaubte daſſelbe in der Biologie erreicht, wenn man mit Huͤlfe der
feinſten Jnſtrumente und Beobachtungsmittel die Formen und die Le-
benserſcheinungen aller einzelnen Organismen ganz genau erkannt ha-
ben wuͤrde. Zwar gab es immerhin unter dieſen ſtreng empiriſchen
oder ſogenannten exakten Naturforſchern zahlreiche, welche ſich uͤber
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/85>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.