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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Entwickelungstheorie des Aristoteles.
hen, da denselben zu sehr die erfahrungsmäßige Kenntniß sowohl von
der organischen als von der anorganischen Natur abging, und sie sich
demgemäß fast immer nur in luftigen Speculationen verirrten.

Nur einen Mann müssen wir hier ausnahmsweise hervorheben,
den größten und den einzigen wahrhaft großen Naturforscher des Al-
terthums und des Mittelalters, einen der erhabensten Genien aller Zei-
ten: Aristoteles. Wie derselbe in empirisch-philosophischer Na-
turerkenntniß, und insbesondere im Verständniß der organischen Na-
tur, während eines Zeitraums von mehr als zweitausend Jahren ein-
zig dasteht, beweisen uns die kostbaren Reste seiner nur theilweis er-
haltenen Werke. Auch von einer natürlichen Entwickelungstheorie fin-
den sich in denselben mehrfache Spuren vor. Aristoteles nimmt
mit voller Bestimmtheit die Urzeugung als die natürliche Entstehungs-
art der niederen organischen Wesen an. Er läßt Thiere und Pflan-
zen aus der Materie selbst durch deren ureigene Kraft entstehen, so
z. B. Motten aus Wolle, Flöhe aus faulem Mist, Milben aus feuch-
tem Holz u. s. w. Da ihm jedoch die Unterscheidung der organischen
Species, welche erst mehr als zweitausend Jahre später Linne gelang,
unbekannt war, konnte er über deren genealogisches Verhältniß sich
wohl noch keine Vorstellungen bilden,

Der Grundgedanke der Entwickelungstheorie, daß die verschiede-
nen Thier- und Pflanzenarten sich aus gemeinsamen Stammarten
durch Umbildung entwickelt haben, konnte natürlich erst klar ausge-
sprochen werden, nachdem die Arten oder Species selbst genauer be-
kannt geworden, und nachdem auch schon die ausgestorbenen Species
neben den lebenden in Betracht gezogen und eingehender mit letzteren
verglichen worden waren. Dies geschah erst gegen Ende des vorigen
und im Beginn unseres Jahrhunderts. Erst im Jahre 1801 sprach
der große Lamarck die Entwickelungstheorie aus, welche er 1809 in
seiner klassischen "Philosophie zoologique" weiter ausführte. Wäh-
rend Lamarck und sein Landsmann Geoffroy S. Hilaire in
Frankreich den Ansichten Cuviers gegenüber traten und eine natür-
liche Entwickelung der organischen Species durch Umbildung und Ab-

Entwickelungstheorie des Ariſtoteles.
hen, da denſelben zu ſehr die erfahrungsmaͤßige Kenntniß ſowohl von
der organiſchen als von der anorganiſchen Natur abging, und ſie ſich
demgemaͤß faſt immer nur in luftigen Speculationen verirrten.

Nur einen Mann muͤſſen wir hier ausnahmsweiſe hervorheben,
den groͤßten und den einzigen wahrhaft großen Naturforſcher des Al-
terthums und des Mittelalters, einen der erhabenſten Genien aller Zei-
ten: Ariſtoteles. Wie derſelbe in empiriſch-philoſophiſcher Na-
turerkenntniß, und insbeſondere im Verſtaͤndniß der organiſchen Na-
tur, waͤhrend eines Zeitraums von mehr als zweitauſend Jahren ein-
zig daſteht, beweiſen uns die koſtbaren Reſte ſeiner nur theilweis er-
haltenen Werke. Auch von einer natuͤrlichen Entwickelungstheorie fin-
den ſich in denſelben mehrfache Spuren vor. Ariſtoteles nimmt
mit voller Beſtimmtheit die Urzeugung als die natuͤrliche Entſtehungs-
art der niederen organiſchen Weſen an. Er laͤßt Thiere und Pflan-
zen aus der Materie ſelbſt durch deren ureigene Kraft entſtehen, ſo
z. B. Motten aus Wolle, Floͤhe aus faulem Miſt, Milben aus feuch-
tem Holz u. ſ. w. Da ihm jedoch die Unterſcheidung der organiſchen
Species, welche erſt mehr als zweitauſend Jahre ſpaͤter Linné gelang,
unbekannt war, konnte er uͤber deren genealogiſches Verhaͤltniß ſich
wohl noch keine Vorſtellungen bilden,

Der Grundgedanke der Entwickelungstheorie, daß die verſchiede-
nen Thier- und Pflanzenarten ſich aus gemeinſamen Stammarten
durch Umbildung entwickelt haben, konnte natuͤrlich erſt klar ausge-
ſprochen werden, nachdem die Arten oder Species ſelbſt genauer be-
kannt geworden, und nachdem auch ſchon die ausgeſtorbenen Species
neben den lebenden in Betracht gezogen und eingehender mit letzteren
verglichen worden waren. Dies geſchah erſt gegen Ende des vorigen
und im Beginn unſeres Jahrhunderts. Erſt im Jahre 1801 ſprach
der große Lamarck die Entwickelungstheorie aus, welche er 1809 in
ſeiner klaſſiſchen „Philosophie zoologique“ weiter ausfuͤhrte. Waͤh-
rend Lamarck und ſein Landsmann Geoffroy S. Hilaire in
Frankreich den Anſichten Cuviers gegenuͤber traten und eine natuͤr-
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[63/0084] Entwickelungstheorie des Ariſtoteles. hen, da denſelben zu ſehr die erfahrungsmaͤßige Kenntniß ſowohl von der organiſchen als von der anorganiſchen Natur abging, und ſie ſich demgemaͤß faſt immer nur in luftigen Speculationen verirrten. Nur einen Mann muͤſſen wir hier ausnahmsweiſe hervorheben, den groͤßten und den einzigen wahrhaft großen Naturforſcher des Al- terthums und des Mittelalters, einen der erhabenſten Genien aller Zei- ten: Ariſtoteles. Wie derſelbe in empiriſch-philoſophiſcher Na- turerkenntniß, und insbeſondere im Verſtaͤndniß der organiſchen Na- tur, waͤhrend eines Zeitraums von mehr als zweitauſend Jahren ein- zig daſteht, beweiſen uns die koſtbaren Reſte ſeiner nur theilweis er- haltenen Werke. Auch von einer natuͤrlichen Entwickelungstheorie fin- den ſich in denſelben mehrfache Spuren vor. Ariſtoteles nimmt mit voller Beſtimmtheit die Urzeugung als die natuͤrliche Entſtehungs- art der niederen organiſchen Weſen an. Er laͤßt Thiere und Pflan- zen aus der Materie ſelbſt durch deren ureigene Kraft entſtehen, ſo z. B. Motten aus Wolle, Floͤhe aus faulem Miſt, Milben aus feuch- tem Holz u. ſ. w. Da ihm jedoch die Unterſcheidung der organiſchen Species, welche erſt mehr als zweitauſend Jahre ſpaͤter Linné gelang, unbekannt war, konnte er uͤber deren genealogiſches Verhaͤltniß ſich wohl noch keine Vorſtellungen bilden, Der Grundgedanke der Entwickelungstheorie, daß die verſchiede- nen Thier- und Pflanzenarten ſich aus gemeinſamen Stammarten durch Umbildung entwickelt haben, konnte natuͤrlich erſt klar ausge- ſprochen werden, nachdem die Arten oder Species ſelbſt genauer be- kannt geworden, und nachdem auch ſchon die ausgeſtorbenen Species neben den lebenden in Betracht gezogen und eingehender mit letzteren verglichen worden waren. Dies geſchah erſt gegen Ende des vorigen und im Beginn unſeres Jahrhunderts. Erſt im Jahre 1801 ſprach der große Lamarck die Entwickelungstheorie aus, welche er 1809 in ſeiner klaſſiſchen „Philosophie zoologique“ weiter ausfuͤhrte. Waͤh- rend Lamarck und ſein Landsmann Geoffroy S. Hilaire in Frankreich den Anſichten Cuviers gegenuͤber traten und eine natuͤr- liche Entwickelung der organiſchen Species durch Umbildung und Ab-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/84>, abgerufen am 24.11.2024.