Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Paläontologische Entwickelungsgesetze von Agassiz.
thieren zuerst nur Fische allein existirt haben, daß erst später Amphi-
bien auftraten, und daß erst in noch viel späterer Zeit Vögel und Säu-
gethiere erschienen; daß ferner von den Säugethieren, ebenso wie von
den Fischen, anfangs unvollkommnere, niedere Ordnungen, später erst
vollkommnere und höhere auftraten. Agassiz zeigte mithin, daß die
paläontologische Entwickelung der ganzen Wirbelthiergruppe nicht allein
der embryonalen parallel sei, sondern auch der systematischen Entwicke-
lung, d. h. der Stufenleiter, welche wir überall im System von den niede-
ren zu den höheren Klassen, Ordnungen u. s. w. aufsteigend erblicken.
Zuerst erschienen in der Erdgeschichte nur niedere, später erst höhere For-
men. Diese wichtige Thatsache erklärt sich, ebenso wie die Uebereinstim-
mung der embryonalen und paläontologischen Entwickelung, ganz ein-
fach und natürlich aus der Abstammungslehre, während sie ohne diese
ganz unerklärlich ist. Dasselbe gilt ferner auch von dem großen Gesetz der
fortschreitenden Entwickelung, von dem historischen Fortschritt
der Organisation, welcher sowohl im Großen und Ganzen in der ge-
schichtlichen Aufeinanderfolge aller Organismen sichtbar ist, als in der
besonderen Vervollkommnung einzelner Theile des Thierkörpers. So z. B.
erhielt das Skelet der Wirbelthiere, ihr Knochengerüst, erst langsam,
allmählich und stufenweis den hohen Grad von Vollkommenheit, welchen
es jetzt beim Menschen und den anderen höheren Wirbelthieren besitzt.
Dieser von Agassiz thatsächlich anerkannte Fortschritt folgt aber mit
Nothwendigkeit aus der von Darwin begründeten Züchtungslehre,
welche die wirkenden Ursachen desselben nachweist. Wenn diese Lehre
richtig ist, so mußte nothwendig die Vollkommenheit und Mannich-
faltigkeit der Thier- und Pflanzenarten im Laufe der organischen Erdge-
schichte stufenweise zunehmen, und konnte erst in neuester Zeit ihre
höchste Ausbildung erlangen.

Alle so eben angeführten, nebst einigen anderen allgemeinen Ent-
wickelungsgesetzen, welche von Agassiz ausdrücklich anerkannt und
mit Recht stark betont werden, welche sogar von ihm selbst zum Theil
erst aufgestellt wurden, sind, wie Sie später sehen werden, nur durch
die Abstammungslehre erklärbar und bleiben ohne dieselbe völlig un-

Palaͤontologiſche Entwickelungsgeſetze von Agaſſiz.
thieren zuerſt nur Fiſche allein exiſtirt haben, daß erſt ſpaͤter Amphi-
bien auftraten, und daß erſt in noch viel ſpaͤterer Zeit Voͤgel und Saͤu-
gethiere erſchienen; daß ferner von den Saͤugethieren, ebenſo wie von
den Fiſchen, anfangs unvollkommnere, niedere Ordnungen, ſpaͤter erſt
vollkommnere und hoͤhere auftraten. Agaſſiz zeigte mithin, daß die
palaͤontologiſche Entwickelung der ganzen Wirbelthiergruppe nicht allein
der embryonalen parallel ſei, ſondern auch der ſyſtematiſchen Entwicke-
lung, d. h. der Stufenleiter, welche wir uͤberall im Syſtem von den niede-
ren zu den hoͤheren Klaſſen, Ordnungen u. ſ. w. aufſteigend erblicken.
Zuerſt erſchienen in der Erdgeſchichte nur niedere, ſpaͤter erſt hoͤhere For-
men. Dieſe wichtige Thatſache erklaͤrt ſich, ebenſo wie die Uebereinſtim-
mung der embryonalen und palaͤontologiſchen Entwickelung, ganz ein-
fach und natuͤrlich aus der Abſtammungslehre, waͤhrend ſie ohne dieſe
ganz unerklaͤrlich iſt. Daſſelbe gilt ferner auch von dem großen Geſetz der
fortſchreitenden Entwickelung, von dem hiſtoriſchen Fortſchritt
der Organiſation, welcher ſowohl im Großen und Ganzen in der ge-
ſchichtlichen Aufeinanderfolge aller Organismen ſichtbar iſt, als in der
beſonderen Vervollkommnung einzelner Theile des Thierkoͤrpers. So z. B.
erhielt das Skelet der Wirbelthiere, ihr Knochengeruͤſt, erſt langſam,
allmaͤhlich und ſtufenweis den hohen Grad von Vollkommenheit, welchen
es jetzt beim Menſchen und den anderen hoͤheren Wirbelthieren beſitzt.
Dieſer von Agaſſiz thatſaͤchlich anerkannte Fortſchritt folgt aber mit
Nothwendigkeit aus der von Darwin begruͤndeten Zuͤchtungslehre,
welche die wirkenden Urſachen deſſelben nachweiſt. Wenn dieſe Lehre
richtig iſt, ſo mußte nothwendig die Vollkommenheit und Mannich-
faltigkeit der Thier- und Pflanzenarten im Laufe der organiſchen Erdge-
ſchichte ſtufenweiſe zunehmen, und konnte erſt in neueſter Zeit ihre
hoͤchſte Ausbildung erlangen.

Alle ſo eben angefuͤhrten, nebſt einigen anderen allgemeinen Ent-
wickelungsgeſetzen, welche von Agaſſiz ausdruͤcklich anerkannt und
mit Recht ſtark betont werden, welche ſogar von ihm ſelbſt zum Theil
erſt aufgeſtellt wurden, ſind, wie Sie ſpaͤter ſehen werden, nur durch
die Abſtammungslehre erklaͤrbar und bleiben ohne dieſelbe voͤllig un-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0077" n="56"/><fw place="top" type="header">Pala&#x0364;ontologi&#x017F;che Entwickelungsge&#x017F;etze von Aga&#x017F;&#x017F;iz.</fw><lb/>
thieren zuer&#x017F;t nur Fi&#x017F;che allein exi&#x017F;tirt haben, daß er&#x017F;t &#x017F;pa&#x0364;ter Amphi-<lb/>
bien auftraten, und daß er&#x017F;t in noch viel &#x017F;pa&#x0364;terer Zeit Vo&#x0364;gel und Sa&#x0364;u-<lb/>
gethiere er&#x017F;chienen; daß ferner von den Sa&#x0364;ugethieren, eben&#x017F;o wie von<lb/>
den Fi&#x017F;chen, anfangs unvollkommnere, niedere Ordnungen, &#x017F;pa&#x0364;ter er&#x017F;t<lb/>
vollkommnere und ho&#x0364;here auftraten. <hi rendition="#g">Aga&#x017F;&#x017F;iz</hi> zeigte mithin, daß die<lb/>
pala&#x0364;ontologi&#x017F;che Entwickelung der ganzen Wirbelthiergruppe nicht allein<lb/>
der embryonalen parallel &#x017F;ei, &#x017F;ondern auch der &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chen Entwicke-<lb/>
lung, d. h. der Stufenleiter, welche wir u&#x0364;berall im Sy&#x017F;tem von den niede-<lb/>
ren zu den ho&#x0364;heren Kla&#x017F;&#x017F;en, Ordnungen u. &#x017F;. w. auf&#x017F;teigend erblicken.<lb/>
Zuer&#x017F;t er&#x017F;chienen in der Erdge&#x017F;chichte nur niedere, &#x017F;pa&#x0364;ter er&#x017F;t ho&#x0364;here For-<lb/>
men. Die&#x017F;e wichtige That&#x017F;ache erkla&#x0364;rt &#x017F;ich, eben&#x017F;o wie die Ueberein&#x017F;tim-<lb/>
mung der embryonalen und pala&#x0364;ontologi&#x017F;chen Entwickelung, ganz ein-<lb/>
fach und natu&#x0364;rlich aus der Ab&#x017F;tammungslehre, wa&#x0364;hrend &#x017F;ie ohne die&#x017F;e<lb/>
ganz unerkla&#x0364;rlich i&#x017F;t. Da&#x017F;&#x017F;elbe gilt ferner auch von dem großen Ge&#x017F;etz der<lb/><hi rendition="#g">fort&#x017F;chreitenden Entwickelung,</hi> von dem hi&#x017F;tori&#x017F;chen Fort&#x017F;chritt<lb/>
der Organi&#x017F;ation, welcher &#x017F;owohl im Großen und Ganzen in der ge-<lb/>
&#x017F;chichtlichen Aufeinanderfolge aller Organismen &#x017F;ichtbar i&#x017F;t, als in der<lb/>
be&#x017F;onderen Vervollkommnung einzelner Theile des Thierko&#x0364;rpers. So z. B.<lb/>
erhielt das Skelet der Wirbelthiere, ihr Knochengeru&#x0364;&#x017F;t, er&#x017F;t lang&#x017F;am,<lb/>
allma&#x0364;hlich und &#x017F;tufenweis den hohen Grad von Vollkommenheit, welchen<lb/>
es jetzt beim Men&#x017F;chen und den anderen ho&#x0364;heren Wirbelthieren be&#x017F;itzt.<lb/>
Die&#x017F;er von <hi rendition="#g">Aga&#x017F;&#x017F;iz</hi> that&#x017F;a&#x0364;chlich anerkannte Fort&#x017F;chritt folgt aber mit<lb/>
Nothwendigkeit aus der von <hi rendition="#g">Darwin</hi> begru&#x0364;ndeten Zu&#x0364;chtungslehre,<lb/>
welche die wirkenden Ur&#x017F;achen de&#x017F;&#x017F;elben nachwei&#x017F;t. Wenn die&#x017F;e Lehre<lb/>
richtig i&#x017F;t, &#x017F;o mußte nothwendig die Vollkommenheit und Mannich-<lb/>
faltigkeit der Thier- und Pflanzenarten im Laufe der organi&#x017F;chen Erdge-<lb/>
&#x017F;chichte &#x017F;tufenwei&#x017F;e zunehmen, und konnte er&#x017F;t in neue&#x017F;ter Zeit ihre<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;te Ausbildung erlangen.</p><lb/>
        <p>Alle &#x017F;o eben angefu&#x0364;hrten, neb&#x017F;t einigen anderen allgemeinen Ent-<lb/>
wickelungsge&#x017F;etzen, welche von <hi rendition="#g">Aga&#x017F;&#x017F;iz</hi> ausdru&#x0364;cklich anerkannt und<lb/>
mit Recht &#x017F;tark betont werden, welche &#x017F;ogar von ihm &#x017F;elb&#x017F;t zum Theil<lb/>
er&#x017F;t aufge&#x017F;tellt wurden, &#x017F;ind, wie Sie &#x017F;pa&#x0364;ter &#x017F;ehen werden, nur durch<lb/>
die Ab&#x017F;tammungslehre erkla&#x0364;rbar und bleiben ohne die&#x017F;elbe vo&#x0364;llig un-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0077] Palaͤontologiſche Entwickelungsgeſetze von Agaſſiz. thieren zuerſt nur Fiſche allein exiſtirt haben, daß erſt ſpaͤter Amphi- bien auftraten, und daß erſt in noch viel ſpaͤterer Zeit Voͤgel und Saͤu- gethiere erſchienen; daß ferner von den Saͤugethieren, ebenſo wie von den Fiſchen, anfangs unvollkommnere, niedere Ordnungen, ſpaͤter erſt vollkommnere und hoͤhere auftraten. Agaſſiz zeigte mithin, daß die palaͤontologiſche Entwickelung der ganzen Wirbelthiergruppe nicht allein der embryonalen parallel ſei, ſondern auch der ſyſtematiſchen Entwicke- lung, d. h. der Stufenleiter, welche wir uͤberall im Syſtem von den niede- ren zu den hoͤheren Klaſſen, Ordnungen u. ſ. w. aufſteigend erblicken. Zuerſt erſchienen in der Erdgeſchichte nur niedere, ſpaͤter erſt hoͤhere For- men. Dieſe wichtige Thatſache erklaͤrt ſich, ebenſo wie die Uebereinſtim- mung der embryonalen und palaͤontologiſchen Entwickelung, ganz ein- fach und natuͤrlich aus der Abſtammungslehre, waͤhrend ſie ohne dieſe ganz unerklaͤrlich iſt. Daſſelbe gilt ferner auch von dem großen Geſetz der fortſchreitenden Entwickelung, von dem hiſtoriſchen Fortſchritt der Organiſation, welcher ſowohl im Großen und Ganzen in der ge- ſchichtlichen Aufeinanderfolge aller Organismen ſichtbar iſt, als in der beſonderen Vervollkommnung einzelner Theile des Thierkoͤrpers. So z. B. erhielt das Skelet der Wirbelthiere, ihr Knochengeruͤſt, erſt langſam, allmaͤhlich und ſtufenweis den hohen Grad von Vollkommenheit, welchen es jetzt beim Menſchen und den anderen hoͤheren Wirbelthieren beſitzt. Dieſer von Agaſſiz thatſaͤchlich anerkannte Fortſchritt folgt aber mit Nothwendigkeit aus der von Darwin begruͤndeten Zuͤchtungslehre, welche die wirkenden Urſachen deſſelben nachweiſt. Wenn dieſe Lehre richtig iſt, ſo mußte nothwendig die Vollkommenheit und Mannich- faltigkeit der Thier- und Pflanzenarten im Laufe der organiſchen Erdge- ſchichte ſtufenweiſe zunehmen, und konnte erſt in neueſter Zeit ihre hoͤchſte Ausbildung erlangen. Alle ſo eben angefuͤhrten, nebſt einigen anderen allgemeinen Ent- wickelungsgeſetzen, welche von Agaſſiz ausdruͤcklich anerkannt und mit Recht ſtark betont werden, welche ſogar von ihm ſelbſt zum Theil erſt aufgeſtellt wurden, ſind, wie Sie ſpaͤter ſehen werden, nur durch die Abſtammungslehre erklaͤrbar und bleiben ohne dieſelbe voͤllig un-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/77
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/77>, abgerufen am 22.11.2024.