über vermochte damals diese richtige Ansicht noch nicht durchzudringen. Ja selbst nachdem durch Lyells 1830 erschienene, classische Principien der Geologie die Kataklysmenlehre Cuviers aus dem Gebiete der Geologie gänzlich verdrängt worden war, blieb seine Ansicht von der specifischen Verschiedenheit der verschiedenen organischen Schöpfungen auf dem Gebiete der Paläontologie noch vielfach in Geltung. (Gen. Morph. II., 312.)
Durch einen seltsamen Zufall geschah es vor zehn Jahren, daß fast zu derselben Zeit, als Cuviers Schöpfungsgeschichte durch Darwins Werk ihren Todesstoß erhielt, ein anderer berühmter Naturforscher den Versuch unternahm, dieselbe von Neuem zu begründen, und in schroffster Form als Theil eines teleologisch-theologischen Natursystems durchzufüh- ren. Der Schweizer Geologe Louis Agassiz nämlich, welcher durch seine Gletscher- und Eiszeittheorien einen so hohen Ruf erlangt hat, und welcher seit einer Reihe von Jahren in Nordamerika lebt, begann 1858 die Veröffentlichung eines höchst großartig angelegten Werks, welches den Titel führt: "Beiträge zur Naturgeschichte der vereinigten Staaten von Nordamerika"5). Der erste Band dieser Naturgeschichte, welche durch den Patriotismus der Nordamerikaner eine für ein so großes und kostspieliges Werk unerhörte Verbreitung erhielt, führt den Titel: "Ein Versuch über Klassifikation". Agassiz erläutert in diesem Versuche nicht allein das natürliche System der Organismen und die verschiedenen darauf abzielenden Klassifikationsversuche der Naturförscher, sondern auch alle allgemeinen biologischen Verhältnisse welche darauf Bezug haben. Die Entwickelungsgeschichte der Orga- nismen, und zwar sowohl die embryologische als die paläontologische, ferner die allgemeinen Resultate der vergleichenden Anatomie, sodann die allgemeine Oekonomie der Natur, die geographische und topo- graphische Verbreitung der Thiere und Pflanzen, kurz fast alle allge- meine Erscheinungsreihen der organischen Natur, kommen in dem Klas- sifikationsversuche von Agassiz zur Besprechung, und werden sämmt- lich in einem Sinne und von einem Standpunkte aus erläutert, wel- cher demjenigen Darwins auf das Schroffste gegenübersteht. Wäh-
Teleologiſches Naturſyſtem von Agaſſiz.
uͤber vermochte damals dieſe richtige Anſicht noch nicht durchzudringen. Ja ſelbſt nachdem durch Lyells 1830 erſchienene, claſſiſche Principien der Geologie die Kataklysmenlehre Cuviers aus dem Gebiete der Geologie gaͤnzlich verdraͤngt worden war, blieb ſeine Anſicht von der ſpecifiſchen Verſchiedenheit der verſchiedenen organiſchen Schoͤpfungen auf dem Gebiete der Palaͤontologie noch vielfach in Geltung. (Gen. Morph. II., 312.)
Durch einen ſeltſamen Zufall geſchah es vor zehn Jahren, daß faſt zu derſelben Zeit, als Cuviers Schoͤpfungsgeſchichte durch Darwins Werk ihren Todesſtoß erhielt, ein anderer beruͤhmter Naturforſcher den Verſuch unternahm, dieſelbe von Neuem zu begruͤnden, und in ſchroffſter Form als Theil eines teleologiſch-theologiſchen Naturſyſtems durchzufuͤh- ren. Der Schweizer Geologe Louis Agaſſiz naͤmlich, welcher durch ſeine Gletſcher- und Eiszeittheorien einen ſo hohen Ruf erlangt hat, und welcher ſeit einer Reihe von Jahren in Nordamerika lebt, begann 1858 die Veroͤffentlichung eines hoͤchſt großartig angelegten Werks, welches den Titel fuͤhrt: „Beitraͤge zur Naturgeſchichte der vereinigten Staaten von Nordamerika“5). Der erſte Band dieſer Naturgeſchichte, welche durch den Patriotismus der Nordamerikaner eine fuͤr ein ſo großes und koſtſpieliges Werk unerhoͤrte Verbreitung erhielt, fuͤhrt den Titel: „Ein Verſuch uͤber Klaſſifikation“. Agaſſiz erlaͤutert in dieſem Verſuche nicht allein das natuͤrliche Syſtem der Organismen und die verſchiedenen darauf abzielenden Klaſſifikationsverſuche der Naturfoͤrſcher, ſondern auch alle allgemeinen biologiſchen Verhaͤltniſſe welche darauf Bezug haben. Die Entwickelungsgeſchichte der Orga- nismen, und zwar ſowohl die embryologiſche als die palaͤontologiſche, ferner die allgemeinen Reſultate der vergleichenden Anatomie, ſodann die allgemeine Oekonomie der Natur, die geographiſche und topo- graphiſche Verbreitung der Thiere und Pflanzen, kurz faſt alle allge- meine Erſcheinungsreihen der organiſchen Natur, kommen in dem Klaſ- ſifikationsverſuche von Agaſſiz zur Beſprechung, und werden ſaͤmmt- lich in einem Sinne und von einem Standpunkte aus erlaͤutert, wel- cher demjenigen Darwins auf das Schroffſte gegenuͤberſteht. Waͤh-
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Teleologiſches Naturſyſtem von Agaſſiz.
uͤber vermochte damals dieſe richtige Anſicht noch nicht durchzudringen.
Ja ſelbſt nachdem durch Lyells 1830 erſchienene, claſſiſche Principien
der Geologie die Kataklysmenlehre Cuviers aus dem Gebiete der
Geologie gaͤnzlich verdraͤngt worden war, blieb ſeine Anſicht von der
ſpecifiſchen Verſchiedenheit der verſchiedenen organiſchen Schoͤpfungen
auf dem Gebiete der Palaͤontologie noch vielfach in Geltung. (Gen.
Morph. II., 312.)
Durch einen ſeltſamen Zufall geſchah es vor zehn Jahren, daß faſt
zu derſelben Zeit, als Cuviers Schoͤpfungsgeſchichte durch Darwins
Werk ihren Todesſtoß erhielt, ein anderer beruͤhmter Naturforſcher den
Verſuch unternahm, dieſelbe von Neuem zu begruͤnden, und in ſchroffſter
Form als Theil eines teleologiſch-theologiſchen Naturſyſtems durchzufuͤh-
ren. Der Schweizer Geologe Louis Agaſſiz naͤmlich, welcher durch
ſeine Gletſcher- und Eiszeittheorien einen ſo hohen Ruf erlangt hat,
und welcher ſeit einer Reihe von Jahren in Nordamerika lebt, begann
1858 die Veroͤffentlichung eines hoͤchſt großartig angelegten Werks,
welches den Titel fuͤhrt: „Beitraͤge zur Naturgeſchichte der vereinigten
Staaten von Nordamerika“5). Der erſte Band dieſer Naturgeſchichte,
welche durch den Patriotismus der Nordamerikaner eine fuͤr ein ſo
großes und koſtſpieliges Werk unerhoͤrte Verbreitung erhielt, fuͤhrt
den Titel: „Ein Verſuch uͤber Klaſſifikation“. Agaſſiz erlaͤutert in
dieſem Verſuche nicht allein das natuͤrliche Syſtem der Organismen
und die verſchiedenen darauf abzielenden Klaſſifikationsverſuche der
Naturfoͤrſcher, ſondern auch alle allgemeinen biologiſchen Verhaͤltniſſe
welche darauf Bezug haben. Die Entwickelungsgeſchichte der Orga-
nismen, und zwar ſowohl die embryologiſche als die palaͤontologiſche,
ferner die allgemeinen Reſultate der vergleichenden Anatomie, ſodann
die allgemeine Oekonomie der Natur, die geographiſche und topo-
graphiſche Verbreitung der Thiere und Pflanzen, kurz faſt alle allge-
meine Erſcheinungsreihen der organiſchen Natur, kommen in dem Klaſ-
ſifikationsverſuche von Agaſſiz zur Beſprechung, und werden ſaͤmmt-
lich in einem Sinne und von einem Standpunkte aus erlaͤutert, wel-
cher demjenigen Darwins auf das Schroffſte gegenuͤberſteht. Waͤh-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/71>, abgerufen am 24.11.2024.
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