Cuviers Hypothese von den Revolutionen der Erdoberfläche.
Eingriff von Wundern in den natürlichen Gang der Dinge nehmen. Nur durch Wunder konnten die Revolutionen der Erde herbeigeführt sein, und nur durch Wunder konnte nach deren Aufhören, am Anfange jeder neuen Periode, eine neue Thier- und Pflanzenwelt geschaffen sein. Für das Wunder hat aber die Naturwissenschaft nirgends einen Platz, sofern man unter Wunder einen Eingriff übernatürlicher Kräfte in den natürlichen Entwickelungsgang der Materie versteht.
Ebenso wie die große Autorität, welche sich Linne durch die systematische Unterscheidung und Benennung der organischen Arten gewonnen hatte, bei seinen Nachfolgern zu einer völligen Verknöcherung des dogmatischen Speciesbegriffs, und zu einem wahren Mißbrauche der systematischen Artunterscheidung führte; ebenso wurden die großen Verdienste, welche sich Cuvier um Kenntniß und Unterscheidung der ausgestorbenen Arten erworben hatte, die Ursache einer allgemeinen Annahme seiner Revolutions- oder Kataklysmenlehre, und der damit verbundenen grundfalschen Schöpfungsansichten. Jn Folge dessen hielten während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts die meisten Zoologen und Botaniker an der Ansicht fest, daß eine Reihe unab- hängiger Perioden der organischen Erdgeschichte existirt habe; jede Periode sei durch eine bestimmte, ihr ganz eigenthümliche Bevölkerung von Thier- und Pflanzenarten ausgezeichnet gewesen; diese sei am Ende der Periode durch eine allgemeine Revolution vernichtet, und nach dem Aufhören der letzteren wiederum eine neue, spezifisch ver- schiedene Thier- und Pflanzenwelt erschaffen worden. Zwar machten schon frühzeitig einzelne selbstständig denkende Köpfe, vor Allen der große Naturphilosoph Lamarck, eine Reihe von gewichtigen Grün- den geltend, welche diese Kataklysmentheorie Cuviers widerlegten, und welche vielmehr auf eine einzige zusammenhängende und ununter- brochene Entwickelungsgeschichte der gesammten organischen Erdbe- völkerung aller Zeiten hinwiesen. Sie behaupteten, daß die Thier- und Pflanzenarten der einzelnen Perioden von denen der nächst vor- hergehenden Periode abstammen und nur die veränderten Nachkommen der ersteren seien. Jndessen der großen Autorität Cuviers gegen-
Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 4
Cuviers Hypotheſe von den Revolutionen der Erdoberflaͤche.
Eingriff von Wundern in den natuͤrlichen Gang der Dinge nehmen. Nur durch Wunder konnten die Revolutionen der Erde herbeigefuͤhrt ſein, und nur durch Wunder konnte nach deren Aufhoͤren, am Anfange jeder neuen Periode, eine neue Thier- und Pflanzenwelt geſchaffen ſein. Fuͤr das Wunder hat aber die Naturwiſſenſchaft nirgends einen Platz, ſofern man unter Wunder einen Eingriff uͤbernatuͤrlicher Kraͤfte in den natuͤrlichen Entwickelungsgang der Materie verſteht.
Ebenſo wie die große Autoritaͤt, welche ſich Linné durch die ſyſtematiſche Unterſcheidung und Benennung der organiſchen Arten gewonnen hatte, bei ſeinen Nachfolgern zu einer voͤlligen Verknoͤcherung des dogmatiſchen Speciesbegriffs, und zu einem wahren Mißbrauche der ſyſtematiſchen Artunterſcheidung fuͤhrte; ebenſo wurden die großen Verdienſte, welche ſich Cuvier um Kenntniß und Unterſcheidung der ausgeſtorbenen Arten erworben hatte, die Urſache einer allgemeinen Annahme ſeiner Revolutions- oder Kataklysmenlehre, und der damit verbundenen grundfalſchen Schoͤpfungsanſichten. Jn Folge deſſen hielten waͤhrend der erſten Haͤlfte unſeres Jahrhunderts die meiſten Zoologen und Botaniker an der Anſicht feſt, daß eine Reihe unab- haͤngiger Perioden der organiſchen Erdgeſchichte exiſtirt habe; jede Periode ſei durch eine beſtimmte, ihr ganz eigenthuͤmliche Bevoͤlkerung von Thier- und Pflanzenarten ausgezeichnet geweſen; dieſe ſei am Ende der Periode durch eine allgemeine Revolution vernichtet, und nach dem Aufhoͤren der letzteren wiederum eine neue, ſpezifiſch ver- ſchiedene Thier- und Pflanzenwelt erſchaffen worden. Zwar machten ſchon fruͤhzeitig einzelne ſelbſtſtaͤndig denkende Koͤpfe, vor Allen der große Naturphiloſoph Lamarck, eine Reihe von gewichtigen Gruͤn- den geltend, welche dieſe Kataklysmentheorie Cuviers widerlegten, und welche vielmehr auf eine einzige zuſammenhaͤngende und ununter- brochene Entwickelungsgeſchichte der geſammten organiſchen Erdbe- voͤlkerung aller Zeiten hinwieſen. Sie behaupteten, daß die Thier- und Pflanzenarten der einzelnen Perioden von denen der naͤchſt vor- hergehenden Periode abſtammen und nur die veraͤnderten Nachkommen der erſteren ſeien. Jndeſſen der großen Autoritaͤt Cuviers gegen-
Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 4
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Cuviers Hypotheſe von den Revolutionen der Erdoberflaͤche.
Eingriff von Wundern in den natuͤrlichen Gang der Dinge nehmen.
Nur durch Wunder konnten die Revolutionen der Erde herbeigefuͤhrt
ſein, und nur durch Wunder konnte nach deren Aufhoͤren, am Anfange
jeder neuen Periode, eine neue Thier- und Pflanzenwelt geſchaffen
ſein. Fuͤr das Wunder hat aber die Naturwiſſenſchaft nirgends einen
Platz, ſofern man unter Wunder einen Eingriff uͤbernatuͤrlicher Kraͤfte
in den natuͤrlichen Entwickelungsgang der Materie verſteht.
Ebenſo wie die große Autoritaͤt, welche ſich Linné durch die
ſyſtematiſche Unterſcheidung und Benennung der organiſchen Arten
gewonnen hatte, bei ſeinen Nachfolgern zu einer voͤlligen Verknoͤcherung
des dogmatiſchen Speciesbegriffs, und zu einem wahren Mißbrauche
der ſyſtematiſchen Artunterſcheidung fuͤhrte; ebenſo wurden die großen
Verdienſte, welche ſich Cuvier um Kenntniß und Unterſcheidung der
ausgeſtorbenen Arten erworben hatte, die Urſache einer allgemeinen
Annahme ſeiner Revolutions- oder Kataklysmenlehre, und der damit
verbundenen grundfalſchen Schoͤpfungsanſichten. Jn Folge deſſen
hielten waͤhrend der erſten Haͤlfte unſeres Jahrhunderts die meiſten
Zoologen und Botaniker an der Anſicht feſt, daß eine Reihe unab-
haͤngiger Perioden der organiſchen Erdgeſchichte exiſtirt habe; jede
Periode ſei durch eine beſtimmte, ihr ganz eigenthuͤmliche Bevoͤlkerung
von Thier- und Pflanzenarten ausgezeichnet geweſen; dieſe ſei am
Ende der Periode durch eine allgemeine Revolution vernichtet, und
nach dem Aufhoͤren der letzteren wiederum eine neue, ſpezifiſch ver-
ſchiedene Thier- und Pflanzenwelt erſchaffen worden. Zwar machten
ſchon fruͤhzeitig einzelne ſelbſtſtaͤndig denkende Koͤpfe, vor Allen der
große Naturphiloſoph Lamarck, eine Reihe von gewichtigen Gruͤn-
den geltend, welche dieſe Kataklysmentheorie Cuviers widerlegten,
und welche vielmehr auf eine einzige zuſammenhaͤngende und ununter-
brochene Entwickelungsgeſchichte der geſammten organiſchen Erdbe-
voͤlkerung aller Zeiten hinwieſen. Sie behaupteten, daß die Thier-
und Pflanzenarten der einzelnen Perioden von denen der naͤchſt vor-
hergehenden Periode abſtammen und nur die veraͤnderten Nachkommen
der erſteren ſeien. Jndeſſen der großen Autoritaͤt Cuviers gegen-
Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 4
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/70>, abgerufen am 22.11.2024.
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