Vergleichung des thierischen und menschlichen Seelenlebens.
Menschheit und weiterhin in dem ganzen Wirbelthierstamme zurück- schließen. Jn unzertrennlicher Verbindung mit dem Körper hat auch der Geist des Menschen alle jene langsamen Stufen der Entwickelung, alle jene einzelnen Schritte der Differenzirung und Vervollkommung durchmessen müssen, von welchen Jhnen die hypothetische Ahnenreihe des Menschen in dem letzten Vortrage ein ungefähres Bild gegeben hat.
Allerdings pflegt gerade diese Vorstellung bei den meisten Men- schen, wenn sie zuerst mit der Entwickelungslehre bekannt werden, den größten Anstoß zu erregen, weil sie am meisten den hergebrachten mythologischen Anschauungen und den durch ein Alter von Jahrtau- senden geheiligten Vorurtheilen widerspricht. Allein eben so gut wie alle anderen Dinge muß nothwendig auch die Menschenseele sich histo- risch entwickelt haben, und die vergleichende Seelenlehre oder die em- pirische Psychologie der Thiere zeigt uns klar, daß diese Entwickelung nur gedacht werden kann als eine stufenweise Hervorbildung aus der Wirbelthierseele, als eine allmähliche Differenzirung und Vervollkomm- nung, welche erst im Laufe vieler Jahrtausende zu dem herrlichen Tri- umph des Menschengeistes über seine niederen thierischen Ahnenstufen geführt hat. Hier wie überall, ist die Untersuchung der Entwickelung und die Vergleichung der verwandten Erscheinungen der einzige Weg, um zur Erkenntniß der natürlichen Wahrheit zu gelangen. Wir müssen also vor Allem, wie wir es auch bei Untersuchung der körperlichen Ent- wickelung thaten, die höchsten thierischen Erscheinungen einerseits mit den niedersten thierischen, andrerseits mit den niedersten menschlichen Erscheinungen vergleichen. Das Endresultat dieser Vergleichung ist, daß zwischen den höchstentwickelten Thierseelen und den tiefstentwickelten Menschenseelen nur ein geringer quantitativer, aber kein qualitativer Unterschied existirt, und daß dieser Unterschied viel geringer ist, als der Unter- schied zwischen den niedersten und höchsten Menschenseelen, oder als der Unterschied zwischen den höchsten und niedersten Thierseelen.
Um sich von der Begründung dieses wichtigen Resultates zu über- zeugen, muß man vor Allem das Geistesleben der wilden Naturvölker
Vergleichung des thieriſchen und menſchlichen Seelenlebens.
Menſchheit und weiterhin in dem ganzen Wirbelthierſtamme zuruͤck- ſchließen. Jn unzertrennlicher Verbindung mit dem Koͤrper hat auch der Geiſt des Menſchen alle jene langſamen Stufen der Entwickelung, alle jene einzelnen Schritte der Differenzirung und Vervollkommung durchmeſſen muͤſſen, von welchen Jhnen die hypothetiſche Ahnenreihe des Menſchen in dem letzten Vortrage ein ungefaͤhres Bild gegeben hat.
Allerdings pflegt gerade dieſe Vorſtellung bei den meiſten Men- ſchen, wenn ſie zuerſt mit der Entwickelungslehre bekannt werden, den groͤßten Anſtoß zu erregen, weil ſie am meiſten den hergebrachten mythologiſchen Anſchauungen und den durch ein Alter von Jahrtau- ſenden geheiligten Vorurtheilen widerſpricht. Allein eben ſo gut wie alle anderen Dinge muß nothwendig auch die Menſchenſeele ſich hiſto- riſch entwickelt haben, und die vergleichende Seelenlehre oder die em- piriſche Pſychologie der Thiere zeigt uns klar, daß dieſe Entwickelung nur gedacht werden kann als eine ſtufenweiſe Hervorbildung aus der Wirbelthierſeele, als eine allmaͤhliche Differenzirung und Vervollkomm- nung, welche erſt im Laufe vieler Jahrtauſende zu dem herrlichen Tri- umph des Menſchengeiſtes uͤber ſeine niederen thieriſchen Ahnenſtufen gefuͤhrt hat. Hier wie uͤberall, iſt die Unterſuchung der Entwickelung und die Vergleichung der verwandten Erſcheinungen der einzige Weg, um zur Erkenntniß der natuͤrlichen Wahrheit zu gelangen. Wir muͤſſen alſo vor Allem, wie wir es auch bei Unterſuchung der koͤrperlichen Ent- wickelung thaten, die hoͤchſten thieriſchen Erſcheinungen einerſeits mit den niederſten thieriſchen, andrerſeits mit den niederſten menſchlichen Erſcheinungen vergleichen. Das Endreſultat dieſer Vergleichung iſt, daß zwiſchen den hoͤchſtentwickelten Thierſeelen und den tiefſtentwickelten Menſchenſeelen nur ein geringer quantitativer, aber kein qualitativer Unterſchied exiſtirt, und daß dieſer Unterſchied viel geringer iſt, als der Unter- ſchied zwiſchen den niederſten und hoͤchſten Menſchenſeelen, oder als der Unterſchied zwiſchen den hoͤchſten und niederſten Thierſeelen.
Um ſich von der Begruͤndung dieſes wichtigen Reſultates zu uͤber- zeugen, muß man vor Allem das Geiſtesleben der wilden Naturvoͤlker
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Vergleichung des thieriſchen und menſchlichen Seelenlebens.
Menſchheit und weiterhin in dem ganzen Wirbelthierſtamme zuruͤck-
ſchließen. Jn unzertrennlicher Verbindung mit dem Koͤrper hat auch
der Geiſt des Menſchen alle jene langſamen Stufen der Entwickelung,
alle jene einzelnen Schritte der Differenzirung und Vervollkommung
durchmeſſen muͤſſen, von welchen Jhnen die hypothetiſche Ahnenreihe
des Menſchen in dem letzten Vortrage ein ungefaͤhres Bild gegeben hat.
Allerdings pflegt gerade dieſe Vorſtellung bei den meiſten Men-
ſchen, wenn ſie zuerſt mit der Entwickelungslehre bekannt werden,
den groͤßten Anſtoß zu erregen, weil ſie am meiſten den hergebrachten
mythologiſchen Anſchauungen und den durch ein Alter von Jahrtau-
ſenden geheiligten Vorurtheilen widerſpricht. Allein eben ſo gut wie
alle anderen Dinge muß nothwendig auch die Menſchenſeele ſich hiſto-
riſch entwickelt haben, und die vergleichende Seelenlehre oder die em-
piriſche Pſychologie der Thiere zeigt uns klar, daß dieſe Entwickelung
nur gedacht werden kann als eine ſtufenweiſe Hervorbildung aus der
Wirbelthierſeele, als eine allmaͤhliche Differenzirung und Vervollkomm-
nung, welche erſt im Laufe vieler Jahrtauſende zu dem herrlichen Tri-
umph des Menſchengeiſtes uͤber ſeine niederen thieriſchen Ahnenſtufen
gefuͤhrt hat. Hier wie uͤberall, iſt die Unterſuchung der Entwickelung
und die Vergleichung der verwandten Erſcheinungen der einzige Weg,
um zur Erkenntniß der natuͤrlichen Wahrheit zu gelangen. Wir muͤſſen
alſo vor Allem, wie wir es auch bei Unterſuchung der koͤrperlichen Ent-
wickelung thaten, die hoͤchſten thieriſchen Erſcheinungen einerſeits mit
den niederſten thieriſchen, andrerſeits mit den niederſten menſchlichen
Erſcheinungen vergleichen. Das Endreſultat dieſer Vergleichung iſt, daß
zwiſchen den hoͤchſtentwickelten Thierſeelen und den
tiefſtentwickelten Menſchenſeelen nur ein geringer
quantitativer, aber kein qualitativer Unterſchied
exiſtirt, und daß dieſer Unterſchied viel geringer iſt, als der Unter-
ſchied zwiſchen den niederſten und hoͤchſten Menſchenſeelen, oder als
der Unterſchied zwiſchen den hoͤchſten und niederſten Thierſeelen.
Um ſich von der Begruͤndung dieſes wichtigen Reſultates zu uͤber-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/571>, abgerufen am 22.11.2024.
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