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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Jnductionsschlüsse und Deductionsschlüsse.
letztere mit Nothwendigkeit, als das wichtigste Deductionsgesetz
derselben. Beide stehen und fallen mit einander. Da auf das rich-
tige Verständniß dieses Satzes, den ich für höchst wichtig halte und
deßhalb schon mehrmals hervorgehoben habe, hier Alles ankommt,
so erlauben Sie mir, denselben jetzt noch mit wenigen Worten an ei-
nem Beispiele zu erläutern.

Bei allen Säugethieren, die wir kennen, ist der Centraltheil des
Nervensystems das Rückenmark und das Gehirn, und der Centraltheil
des Blutkreislaufs ein vierfächeriges, aus zwei Kammern und zwei Vor-
kammern zusammengesetztes Herz. Wir ziehen daraus den allgemei-
nen Jnductionsschluß, daß alle Säugethiere ohne Ausnahme,
die ausgestorbenen und die uns noch unbekannten lebenden Arten, eben
so gut wie die von uns untersuchten Species, die gleiche Organisation,
ein gleiches Herz, Gehirn und Rückenmark besitzen. Wenn nun in ir-
gend einem Erdtheile, wie es noch jetzt alljährlich vorkömmt, irgend
eine neue Säugethierart entdeckt wird, z. B. eine neue Beutelthierart,
oder eine neue Rattenart, oder eine neue Affenart, so weiß jeder Zoolog
von vornherein, ohne den inneren Bau derselben untersucht zu haben,
ganz bestimmt, daß diese Species, eben so wie alle übrigen Säuge-
thiere, ein vierfächeriges Herz, ein Gehirn und ein Rückenmark be-
sitzen muß. Keinem einzigen Naturforscher fällt es ein, daran zu zwei-
feln, und etwa zu denken, daß das Centralnervensystem bei dieser neuen
Säugethierart möglicherweise aus einem Bauchmark mit Schlundring,
wie bei den Gliedfüßern, oder aus zerstreuten Knotenpaaren, wie bei
den Weichthieren bestehen könnte; oder daß das Herz vielkammerig,
wie bei den Jnsecten, oder einkammerig, wie bei den Mantelthieren
sein könnte. Jener ganz bestimmte und sichere Schluß, welcher doch
auf gar keiner unmittelbaren Erfahrung beruht, ist ein Deductions-
schluß.
Ebenso begründete Goethe, wie ich in einem früheren Vor-
trage zeigte, aus der vergleichenden Anatomie der Säugethiere den
allgemeinen Jnductionsschluß, daß dieselben sämmtlich einen Zwischen-
kiefer besitzen, und zog daraus später den besonderen Deductionsschluß,
daß auch der Mensch, der in allen übrigen Beziehungen nicht wesent-

Jnductionsſchluͤſſe und Deductionsſchluͤſſe.
letztere mit Nothwendigkeit, als das wichtigſte Deductionsgeſetz
derſelben. Beide ſtehen und fallen mit einander. Da auf das rich-
tige Verſtaͤndniß dieſes Satzes, den ich fuͤr hoͤchſt wichtig halte und
deßhalb ſchon mehrmals hervorgehoben habe, hier Alles ankommt,
ſo erlauben Sie mir, denſelben jetzt noch mit wenigen Worten an ei-
nem Beiſpiele zu erlaͤutern.

Bei allen Saͤugethieren, die wir kennen, iſt der Centraltheil des
Nervenſyſtems das Ruͤckenmark und das Gehirn, und der Centraltheil
des Blutkreislaufs ein vierfaͤcheriges, aus zwei Kammern und zwei Vor-
kammern zuſammengeſetztes Herz. Wir ziehen daraus den allgemei-
nen Jnductionsſchluß, daß alle Saͤugethiere ohne Ausnahme,
die ausgeſtorbenen und die uns noch unbekannten lebenden Arten, eben
ſo gut wie die von uns unterſuchten Species, die gleiche Organiſation,
ein gleiches Herz, Gehirn und Ruͤckenmark beſitzen. Wenn nun in ir-
gend einem Erdtheile, wie es noch jetzt alljaͤhrlich vorkoͤmmt, irgend
eine neue Saͤugethierart entdeckt wird, z. B. eine neue Beutelthierart,
oder eine neue Rattenart, oder eine neue Affenart, ſo weiß jeder Zoolog
von vornherein, ohne den inneren Bau derſelben unterſucht zu haben,
ganz beſtimmt, daß dieſe Species, eben ſo wie alle uͤbrigen Saͤuge-
thiere, ein vierfaͤcheriges Herz, ein Gehirn und ein Ruͤckenmark be-
ſitzen muß. Keinem einzigen Naturforſcher faͤllt es ein, daran zu zwei-
feln, und etwa zu denken, daß das Centralnervenſyſtem bei dieſer neuen
Saͤugethierart moͤglicherweiſe aus einem Bauchmark mit Schlundring,
wie bei den Gliedfuͤßern, oder aus zerſtreuten Knotenpaaren, wie bei
den Weichthieren beſtehen koͤnnte; oder daß das Herz vielkammerig,
wie bei den Jnſecten, oder einkammerig, wie bei den Mantelthieren
ſein koͤnnte. Jener ganz beſtimmte und ſichere Schluß, welcher doch
auf gar keiner unmittelbaren Erfahrung beruht, iſt ein Deductions-
ſchluß.
Ebenſo begruͤndete Goethe, wie ich in einem fruͤheren Vor-
trage zeigte, aus der vergleichenden Anatomie der Saͤugethiere den
allgemeinen Jnductionsſchluß, daß dieſelben ſaͤmmtlich einen Zwiſchen-
kiefer beſitzen, und zog daraus ſpaͤter den beſonderen Deductionsſchluß,
daß auch der Menſch, der in allen uͤbrigen Beziehungen nicht weſent-

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[541/0566] Jnductionsſchluͤſſe und Deductionsſchluͤſſe. letztere mit Nothwendigkeit, als das wichtigſte Deductionsgeſetz derſelben. Beide ſtehen und fallen mit einander. Da auf das rich- tige Verſtaͤndniß dieſes Satzes, den ich fuͤr hoͤchſt wichtig halte und deßhalb ſchon mehrmals hervorgehoben habe, hier Alles ankommt, ſo erlauben Sie mir, denſelben jetzt noch mit wenigen Worten an ei- nem Beiſpiele zu erlaͤutern. Bei allen Saͤugethieren, die wir kennen, iſt der Centraltheil des Nervenſyſtems das Ruͤckenmark und das Gehirn, und der Centraltheil des Blutkreislaufs ein vierfaͤcheriges, aus zwei Kammern und zwei Vor- kammern zuſammengeſetztes Herz. Wir ziehen daraus den allgemei- nen Jnductionsſchluß, daß alle Saͤugethiere ohne Ausnahme, die ausgeſtorbenen und die uns noch unbekannten lebenden Arten, eben ſo gut wie die von uns unterſuchten Species, die gleiche Organiſation, ein gleiches Herz, Gehirn und Ruͤckenmark beſitzen. Wenn nun in ir- gend einem Erdtheile, wie es noch jetzt alljaͤhrlich vorkoͤmmt, irgend eine neue Saͤugethierart entdeckt wird, z. B. eine neue Beutelthierart, oder eine neue Rattenart, oder eine neue Affenart, ſo weiß jeder Zoolog von vornherein, ohne den inneren Bau derſelben unterſucht zu haben, ganz beſtimmt, daß dieſe Species, eben ſo wie alle uͤbrigen Saͤuge- thiere, ein vierfaͤcheriges Herz, ein Gehirn und ein Ruͤckenmark be- ſitzen muß. Keinem einzigen Naturforſcher faͤllt es ein, daran zu zwei- feln, und etwa zu denken, daß das Centralnervenſyſtem bei dieſer neuen Saͤugethierart moͤglicherweiſe aus einem Bauchmark mit Schlundring, wie bei den Gliedfuͤßern, oder aus zerſtreuten Knotenpaaren, wie bei den Weichthieren beſtehen koͤnnte; oder daß das Herz vielkammerig, wie bei den Jnſecten, oder einkammerig, wie bei den Mantelthieren ſein koͤnnte. Jener ganz beſtimmte und ſichere Schluß, welcher doch auf gar keiner unmittelbaren Erfahrung beruht, iſt ein Deductions- ſchluß. Ebenſo begruͤndete Goethe, wie ich in einem fruͤheren Vor- trage zeigte, aus der vergleichenden Anatomie der Saͤugethiere den allgemeinen Jnductionsſchluß, daß dieſelben ſaͤmmtlich einen Zwiſchen- kiefer beſitzen, und zog daraus ſpaͤter den beſonderen Deductionsſchluß, daß auch der Menſch, der in allen uͤbrigen Beziehungen nicht weſent-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 541. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/566>, abgerufen am 22.11.2024.