natürliche System der Thiere und Pflanzen construiren zu können. Andrerseits giebt es Anatomen und Histologen, welche das eigentliche Verständniß des Thier- und Pflanzenkörpers bloß durch die genaueste Erforschung des inneren Körperbaues einer einzelnen Species, ohne die vergleichende Betrachtung der gesammten Körperform bei allen verwandten Organismen, gewinnen zu können meinen. Und doch steht auch hier, wie überall, Jnneres und Aeußeres, Vererbung und Anpassung in der engsten Wechselbeziehung, und das Einzelne kann nie ohne Vergleichung mit dem zugehörigen Ganzen wirklich verstanden werden. Jenen einseitigen Facharbeitern möchten wir daher mit Goethe zurufen:
"Müsset im Naturbetrachten "Jmmer Eins wie Alles achten. "Nichts ist drinnen, Nichts ist draußen, "Denn was innen, das ist außen."
und weiterhin:
"Natur hat weder Kern noch Schale "Alles ist sie mit einem Male."
Noch viel nachtheiliger aber, als jene einseitige Richtung ist für das allgemeine Verständniß des Naturganzen der allgemeine Man- gel philosophischer Bildung, durch welchen sich die meisten Naturforscher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Verirrun- gen der früheren speculativen Naturphilosophie, aus dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts, haben bei den exacten empirischen Naturfor- schern die ganze Philosophie in einen solchen Mißcredit gebracht, daß dieselben in dem komischen Jrrwahne leben, das Gebäude der Natur- wissenschaft aus bloßen Thatsachen, ohne philosophische Verknüpfung derselben, aus bloßen Kenntnissen, ohne Verständniß derselben, auf- bauen zu können. Während aber ein rein speculatives, absolut phi- losophisches Lehrgebäude, welches sich nicht um die unerläßliche Grund- lage der empirischen Thatsachen kümmert, ein Luftschloß wird, das die erste beste Erfahrung über den Haufen wirft, so bleibt andrerseits ein rein empirisches, absolut aus Thatsachen zusammengesetztes Lehr- gebäude ein wüster Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines Gebäudes verdienen wird. Die nackten, durch die Erfahrung festge-
Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.
natuͤrliche Syſtem der Thiere und Pflanzen conſtruiren zu koͤnnen. Andrerſeits giebt es Anatomen und Hiſtologen, welche das eigentliche Verſtaͤndniß des Thier- und Pflanzenkoͤrpers bloß durch die genaueſte Erforſchung des inneren Koͤrperbaues einer einzelnen Species, ohne die vergleichende Betrachtung der geſammten Koͤrperform bei allen verwandten Organismen, gewinnen zu koͤnnen meinen. Und doch ſteht auch hier, wie uͤberall, Jnneres und Aeußeres, Vererbung und Anpaſſung in der engſten Wechſelbeziehung, und das Einzelne kann nie ohne Vergleichung mit dem zugehoͤrigen Ganzen wirklich verſtanden werden. Jenen einſeitigen Facharbeitern moͤchten wir daher mit Goethe zurufen:
„Muͤſſet im Naturbetrachten „Jmmer Eins wie Alles achten. „Nichts iſt drinnen, Nichts iſt draußen, „Denn was innen, das iſt außen.“
und weiterhin:
„Natur hat weder Kern noch Schale „Alles iſt ſie mit einem Male.“
Noch viel nachtheiliger aber, als jene einſeitige Richtung iſt fuͤr das allgemeine Verſtaͤndniß des Naturganzen der allgemeine Man- gel philoſophiſcher Bildung, durch welchen ſich die meiſten Naturforſcher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Verirrun- gen der fruͤheren ſpeculativen Naturphiloſophie, aus dem erſten Drittel unſeres Jahrhunderts, haben bei den exacten empiriſchen Naturfor- ſchern die ganze Philoſophie in einen ſolchen Mißcredit gebracht, daß dieſelben in dem komiſchen Jrrwahne leben, das Gebaͤude der Natur- wiſſenſchaft aus bloßen Thatſachen, ohne philoſophiſche Verknuͤpfung derſelben, aus bloßen Kenntniſſen, ohne Verſtaͤndniß derſelben, auf- bauen zu koͤnnen. Waͤhrend aber ein rein ſpeculatives, abſolut phi- loſophiſches Lehrgebaͤude, welches ſich nicht um die unerlaͤßliche Grund- lage der empiriſchen Thatſachen kuͤmmert, ein Luftſchloß wird, das die erſte beſte Erfahrung uͤber den Haufen wirft, ſo bleibt andrerſeits ein rein empiriſches, abſolut aus Thatſachen zuſammengeſetztes Lehr- gebaͤude ein wuͤſter Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines Gebaͤudes verdienen wird. Die nackten, durch die Erfahrung feſtge-
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Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.
natuͤrliche Syſtem der Thiere und Pflanzen conſtruiren zu koͤnnen.
Andrerſeits giebt es Anatomen und Hiſtologen, welche das eigentliche
Verſtaͤndniß des Thier- und Pflanzenkoͤrpers bloß durch die genaueſte
Erforſchung des inneren Koͤrperbaues einer einzelnen Species, ohne
die vergleichende Betrachtung der geſammten Koͤrperform bei allen
verwandten Organismen, gewinnen zu koͤnnen meinen. Und doch
ſteht auch hier, wie uͤberall, Jnneres und Aeußeres, Vererbung und
Anpaſſung in der engſten Wechſelbeziehung, und das Einzelne kann
nie ohne Vergleichung mit dem zugehoͤrigen Ganzen wirklich verſtanden
werden. Jenen einſeitigen Facharbeitern moͤchten wir daher mit
Goethe zurufen:
„Muͤſſet im Naturbetrachten
„Jmmer Eins wie Alles achten.
„Nichts iſt drinnen, Nichts iſt draußen,
„Denn was innen, das iſt außen.“
und weiterhin:
„Natur hat weder Kern noch Schale
„Alles iſt ſie mit einem Male.“
Noch viel nachtheiliger aber, als jene einſeitige Richtung iſt fuͤr
das allgemeine Verſtaͤndniß des Naturganzen der allgemeine Man-
gel philoſophiſcher Bildung, durch welchen ſich die meiſten
Naturforſcher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Verirrun-
gen der fruͤheren ſpeculativen Naturphiloſophie, aus dem erſten Drittel
unſeres Jahrhunderts, haben bei den exacten empiriſchen Naturfor-
ſchern die ganze Philoſophie in einen ſolchen Mißcredit gebracht, daß
dieſelben in dem komiſchen Jrrwahne leben, das Gebaͤude der Natur-
wiſſenſchaft aus bloßen Thatſachen, ohne philoſophiſche Verknuͤpfung
derſelben, aus bloßen Kenntniſſen, ohne Verſtaͤndniß derſelben, auf-
bauen zu koͤnnen. Waͤhrend aber ein rein ſpeculatives, abſolut phi-
loſophiſches Lehrgebaͤude, welches ſich nicht um die unerlaͤßliche Grund-
lage der empiriſchen Thatſachen kuͤmmert, ein Luftſchloß wird, das
die erſte beſte Erfahrung uͤber den Haufen wirft, ſo bleibt andrerſeits
ein rein empiriſches, abſolut aus Thatſachen zuſammengeſetztes Lehr-
gebaͤude ein wuͤſter Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines
Gebaͤudes verdienen wird. Die nackten, durch die Erfahrung feſtge-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/559>, abgerufen am 16.02.2025.
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