Erscheinungsreihen stehen. Selbstverständlich ist dazu ein gewisser Grad allgemeiner Bildung und namentlich philosophischer Erziehung erforderlich, den leider heutzutage nicht viele Leute für nöthig halten. Ohne die nothwendige Verbindung von empirischen Kenntnissen und von philosophischem Verständniß der- selben kann die unerschütterliche Ueberzeugung von der Wahrheit der Descendenztheorie nicht gewonnen werden.
Nun bitte ich Sie, gegenüber dieser ersten Vorbedingung für das wahre Verständniß der Descendenztheorie, die bunte Menge von Leuten zu betrachten, die sich herausgenommen haben, über dieselbe mündlich und schriftlich ein vernichtendes Urtheil zu fällen! Die meisten derselben sind Laien, welche die wichtigsten biologischen Er- scheinungen entweder gar nicht kennen, oder doch keine Vorstellung von ihrer tieferen Bedeutung besitzen. Was würden Sie von einem Laien sagen, der über die Zellentheorie urtheilen wollte, ohne jemals Zellen gesehen zu haben, oder über die Wirbeltheorie, ohne jemals vergleichende Anatomie getrieben zu haben? Und doch begegnen Sie solchen lächerlichen Anmaßungen in der Geschichte der biologischen Descendenztheorie alle Tage! Sie hören Tausende von Laien und von Halbgebildeten darüber ein entscheidendes Urtheil fällen, die weder von Botanik noch von Zoologie, weder von vergleichender Anatomie noch von Gewebelehre, weder von Paläontologie noch von Embryologie Etwas wissen. Daher kömmt es, daß, wie Huxley treffend sagt, die allermeisten gegen Darwin veröffentlichten Schriften das Papier nicht werth sind, auf dem sie geschrieben wurden.
Sie könnten mir einwenden, daß ja unter den Gegnern der Descendenztheorie doch auch viele Naturforscher, und selbst manche be- rühmte Zoologen und Botaniker sind. Diese letzteren sind jedoch meist ältere Gelehrte, die in ganz entgegengesetzten Anschauungen alt geworden sind, und denen man nicht zumuthen kann, noch am Abend ihres Lebens sich einer Reform ihrer, zur festen Gewohnheit geworde- nen Weltanschauung zu unterziehen. Sodann muß aber auch aus-
Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.
Erſcheinungsreihen ſtehen. Selbſtverſtaͤndlich iſt dazu ein gewiſſer Grad allgemeiner Bildung und namentlich philoſophiſcher Erziehung erforderlich, den leider heutzutage nicht viele Leute fuͤr noͤthig halten. Ohne die nothwendige Verbindung von empiriſchen Kenntniſſen und von philoſophiſchem Verſtaͤndniß der- ſelben kann die unerſchuͤtterliche Ueberzeugung von der Wahrheit der Deſcendenztheorie nicht gewonnen werden.
Nun bitte ich Sie, gegenuͤber dieſer erſten Vorbedingung fuͤr das wahre Verſtaͤndniß der Deſcendenztheorie, die bunte Menge von Leuten zu betrachten, die ſich herausgenommen haben, uͤber dieſelbe muͤndlich und ſchriftlich ein vernichtendes Urtheil zu faͤllen! Die meiſten derſelben ſind Laien, welche die wichtigſten biologiſchen Er- ſcheinungen entweder gar nicht kennen, oder doch keine Vorſtellung von ihrer tieferen Bedeutung beſitzen. Was wuͤrden Sie von einem Laien ſagen, der uͤber die Zellentheorie urtheilen wollte, ohne jemals Zellen geſehen zu haben, oder uͤber die Wirbeltheorie, ohne jemals vergleichende Anatomie getrieben zu haben? Und doch begegnen Sie ſolchen laͤcherlichen Anmaßungen in der Geſchichte der biologiſchen Deſcendenztheorie alle Tage! Sie hoͤren Tauſende von Laien und von Halbgebildeten daruͤber ein entſcheidendes Urtheil faͤllen, die weder von Botanik noch von Zoologie, weder von vergleichender Anatomie noch von Gewebelehre, weder von Palaͤontologie noch von Embryologie Etwas wiſſen. Daher koͤmmt es, daß, wie Huxley treffend ſagt, die allermeiſten gegen Darwin veroͤffentlichten Schriften das Papier nicht werth ſind, auf dem ſie geſchrieben wurden.
Sie koͤnnten mir einwenden, daß ja unter den Gegnern der Deſcendenztheorie doch auch viele Naturforſcher, und ſelbſt manche be- ruͤhmte Zoologen und Botaniker ſind. Dieſe letzteren ſind jedoch meiſt aͤltere Gelehrte, die in ganz entgegengeſetzten Anſchauungen alt geworden ſind, und denen man nicht zumuthen kann, noch am Abend ihres Lebens ſich einer Reform ihrer, zur feſten Gewohnheit geworde- nen Weltanſchauung zu unterziehen. Sodann muß aber auch aus-
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Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.
Erſcheinungsreihen ſtehen. Selbſtverſtaͤndlich iſt dazu ein gewiſſer
Grad allgemeiner Bildung und namentlich philoſophiſcher Erziehung
erforderlich, den leider heutzutage nicht viele Leute fuͤr noͤthig halten.
Ohne die nothwendige Verbindung von empiriſchen
Kenntniſſen und von philoſophiſchem Verſtaͤndniß der-
ſelben kann die unerſchuͤtterliche Ueberzeugung von
der Wahrheit der Deſcendenztheorie nicht gewonnen
werden.
Nun bitte ich Sie, gegenuͤber dieſer erſten Vorbedingung fuͤr
das wahre Verſtaͤndniß der Deſcendenztheorie, die bunte Menge von
Leuten zu betrachten, die ſich herausgenommen haben, uͤber dieſelbe
muͤndlich und ſchriftlich ein vernichtendes Urtheil zu faͤllen! Die
meiſten derſelben ſind Laien, welche die wichtigſten biologiſchen Er-
ſcheinungen entweder gar nicht kennen, oder doch keine Vorſtellung
von ihrer tieferen Bedeutung beſitzen. Was wuͤrden Sie von einem
Laien ſagen, der uͤber die Zellentheorie urtheilen wollte, ohne jemals
Zellen geſehen zu haben, oder uͤber die Wirbeltheorie, ohne jemals
vergleichende Anatomie getrieben zu haben? Und doch begegnen Sie
ſolchen laͤcherlichen Anmaßungen in der Geſchichte der biologiſchen
Deſcendenztheorie alle Tage! Sie hoͤren Tauſende von Laien und von
Halbgebildeten daruͤber ein entſcheidendes Urtheil faͤllen, die weder von
Botanik noch von Zoologie, weder von vergleichender Anatomie noch
von Gewebelehre, weder von Palaͤontologie noch von Embryologie
Etwas wiſſen. Daher koͤmmt es, daß, wie Huxley treffend ſagt,
die allermeiſten gegen Darwin veroͤffentlichten Schriften das Papier
nicht werth ſind, auf dem ſie geſchrieben wurden.
Sie koͤnnten mir einwenden, daß ja unter den Gegnern der
Deſcendenztheorie doch auch viele Naturforſcher, und ſelbſt manche be-
ruͤhmte Zoologen und Botaniker ſind. Dieſe letzteren ſind jedoch
meiſt aͤltere Gelehrte, die in ganz entgegengeſetzten Anſchauungen alt
geworden ſind, und denen man nicht zumuthen kann, noch am Abend
ihres Lebens ſich einer Reform ihrer, zur feſten Gewohnheit geworde-
nen Weltanſchauung zu unterziehen. Sodann muß aber auch aus-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/557>, abgerufen am 22.11.2024.
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