Beständigkeit und Veränderlichkeit der organischen Species.
verbinden und ihre scharfe specifische Unterscheidung ganz illusorisch machen.
Daß dennoch keine vollständige Verwirrung der Formen, kein all- gemeines Chaos in der Bildung der Thier- und Pflanzengestalten ent- steht, hat einfach seinen Grund in dem Gegengewicht, welches der Ent- stehung neuer Formen durch fortschreitende Anpassung gegenüber die erhaltende Macht der Vererbung ausübt. Der Grad von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit, den jede organische Form zeigt, ist lediglich bedingt durch den jeweiligen Zustand des Gleichgewichts zwi- schen diesen beiden sich entgegenstehenden Funktionen. Die Ver- erbung ist die Ursache der Beständigkeit der Species; die Anpassung ist die Ursache der Abänderung der Art. Wenn also einige Naturforscher sagen, offenbar müßte nach der Ab- stammungslehre eine noch viel größere Mannichfaltigkeit der Formen stattfinden, und andere umgekehrt, es müßte eine viel strengere Gleich- heit der Formen sich zeigen, so unterschätzen die ersteren das Gewicht der Vererbung und die letzteren das Gewicht der Anpassung. Der Grad der Wechselwirkung zwischen der Vererbung und Anpassung bestimmt den Grad der Beständigkeit und Veränderlichkeit der organischen Species, den dieselbe in jedem gegebenen Zeitabschnitt besitzt.
Ein weiterer Einwand gegen die Descendenztheorie, welcher in den Augen vieler Naturforscher und Philosophen ein großes Gewicht besitzt, besteht darin, daß dieselbe die Entstehung zweckmäßig wirkender Organe durch zwecklos oder mechanisch wir- kende Ursachen behauptet. Dieser Einwurf erscheint namentlich von Bedeutung bei Betrachtung derjenigen Organe, welche offenbar für einen ganz bestimmten Zweck so vortrefflich angepaßt erscheinen, daß die scharfsinnigsten Mechaniker nicht im Stande sein würden, ein vollkommeneres Organ für diesen Zweck zu erfinden. Solche Organe sind vor allen die höheren Sinnesorgane der Thiere, Auge und Ohr. Wenn man bloß die Augen und Gehörwerkzeuge der höheren Thiere kennte, so würden dieselben uns in der That große und vielleicht un-
Beſtaͤndigkeit und Veraͤnderlichkeit der organiſchen Species.
verbinden und ihre ſcharfe ſpecifiſche Unterſcheidung ganz illuſoriſch machen.
Daß dennoch keine vollſtaͤndige Verwirrung der Formen, kein all- gemeines Chaos in der Bildung der Thier- und Pflanzengeſtalten ent- ſteht, hat einfach ſeinen Grund in dem Gegengewicht, welches der Ent- ſtehung neuer Formen durch fortſchreitende Anpaſſung gegenuͤber die erhaltende Macht der Vererbung ausuͤbt. Der Grad von Beharrlichkeit und Veraͤnderlichkeit, den jede organiſche Form zeigt, iſt lediglich bedingt durch den jeweiligen Zuſtand des Gleichgewichts zwi- ſchen dieſen beiden ſich entgegenſtehenden Funktionen. Die Ver- erbung iſt die Urſache der Beſtaͤndigkeit der Species; die Anpaſſung iſt die Urſache der Abaͤnderung der Art. Wenn alſo einige Naturforſcher ſagen, offenbar muͤßte nach der Ab- ſtammungslehre eine noch viel groͤßere Mannichfaltigkeit der Formen ſtattfinden, und andere umgekehrt, es muͤßte eine viel ſtrengere Gleich- heit der Formen ſich zeigen, ſo unterſchaͤtzen die erſteren das Gewicht der Vererbung und die letzteren das Gewicht der Anpaſſung. Der Grad der Wechſelwirkung zwiſchen der Vererbung und Anpaſſung beſtimmt den Grad der Beſtaͤndigkeit und Veraͤnderlichkeit der organiſchen Species, den dieſelbe in jedem gegebenen Zeitabſchnitt beſitzt.
Ein weiterer Einwand gegen die Deſcendenztheorie, welcher in den Augen vieler Naturforſcher und Philoſophen ein großes Gewicht beſitzt, beſteht darin, daß dieſelbe die Entſtehung zweckmaͤßig wirkender Organe durch zwecklos oder mechaniſch wir- kende Urſachen behauptet. Dieſer Einwurf erſcheint namentlich von Bedeutung bei Betrachtung derjenigen Organe, welche offenbar fuͤr einen ganz beſtimmten Zweck ſo vortrefflich angepaßt erſcheinen, daß die ſcharfſinnigſten Mechaniker nicht im Stande ſein wuͤrden, ein vollkommeneres Organ fuͤr dieſen Zweck zu erfinden. Solche Organe ſind vor allen die hoͤheren Sinnesorgane der Thiere, Auge und Ohr. Wenn man bloß die Augen und Gehoͤrwerkzeuge der hoͤheren Thiere kennte, ſo wuͤrden dieſelben uns in der That große und vielleicht un-
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Beſtaͤndigkeit und Veraͤnderlichkeit der organiſchen Species.
verbinden und ihre ſcharfe ſpecifiſche Unterſcheidung ganz illuſoriſch
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Daß dennoch keine vollſtaͤndige Verwirrung der Formen, kein all-
gemeines Chaos in der Bildung der Thier- und Pflanzengeſtalten ent-
ſteht, hat einfach ſeinen Grund in dem Gegengewicht, welches der Ent-
ſtehung neuer Formen durch fortſchreitende Anpaſſung gegenuͤber
die erhaltende Macht der Vererbung ausuͤbt. Der Grad von
Beharrlichkeit und Veraͤnderlichkeit, den jede organiſche Form zeigt, iſt
lediglich bedingt durch den jeweiligen Zuſtand des Gleichgewichts zwi-
ſchen dieſen beiden ſich entgegenſtehenden Funktionen. Die Ver-
erbung iſt die Urſache der Beſtaͤndigkeit der Species;
die Anpaſſung iſt die Urſache der Abaͤnderung der Art.
Wenn alſo einige Naturforſcher ſagen, offenbar muͤßte nach der Ab-
ſtammungslehre eine noch viel groͤßere Mannichfaltigkeit der Formen
ſtattfinden, und andere umgekehrt, es muͤßte eine viel ſtrengere Gleich-
heit der Formen ſich zeigen, ſo unterſchaͤtzen die erſteren das Gewicht
der Vererbung und die letzteren das Gewicht der Anpaſſung. Der
Grad der Wechſelwirkung zwiſchen der Vererbung und
Anpaſſung beſtimmt den Grad der Beſtaͤndigkeit und
Veraͤnderlichkeit der organiſchen Species, den dieſelbe
in jedem gegebenen Zeitabſchnitt beſitzt.
Ein weiterer Einwand gegen die Deſcendenztheorie, welcher in
den Augen vieler Naturforſcher und Philoſophen ein großes Gewicht
beſitzt, beſteht darin, daß dieſelbe die Entſtehung zweckmaͤßig
wirkender Organe durch zwecklos oder mechaniſch wir-
kende Urſachen behauptet. Dieſer Einwurf erſcheint namentlich
von Bedeutung bei Betrachtung derjenigen Organe, welche offenbar
fuͤr einen ganz beſtimmten Zweck ſo vortrefflich angepaßt erſcheinen,
daß die ſcharfſinnigſten Mechaniker nicht im Stande ſein wuͤrden, ein
vollkommeneres Organ fuͤr dieſen Zweck zu erfinden. Solche Organe
ſind vor allen die hoͤheren Sinnesorgane der Thiere, Auge und Ohr.
Wenn man bloß die Augen und Gehoͤrwerkzeuge der hoͤheren Thiere
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/552>, abgerufen am 25.11.2024.
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