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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Unermeßlich lange Zeiträume der organischen Erdgeschichte.
welche wir als die einzig wahre anerkennen, steht überall in der Natur
geschrieben, und jedem Menschen mit gesunden Sinnen und gesunder
Vernunft steht es frei, in diesem heiligen Tempel der Natur durch eige-
nes Forschen und selbstständiges Erkennen der untrüglichen Offenba-
rung theilhaftig zu werden.

Wenn wir demgemäß hier alle Einwürfe gegen die Abstammungs-
lehre unberücksichtigt lassen können, die etwa von den Priestern der zahl-
losen verschiedenen Glaubensreligionen erhoben werden könnten, so
werden wir dagegen nicht umhin können, die wichtigsten von denjenigen
Einwänden zu widerlegen, welche mehr oder weniger wissenschaftlich
begründet erscheinen, und von denen man zugestehen muß, daß man
durch sie auf den ersten Blick in gewissem Grade eingenommen und
von der Annahme der Abstammungslehre zurückgeschreckt werden kann.
Unter diesen Einwänden erscheint Vielen als der wichtigste derjenige,
welcher die Zeitlänge betrifft. Wir sind nicht gewohnt, mit so un-
geheuern Zeitmaaßen umzugehen, wie sie für die Schöpfungsgeschichte
erforderlich sind. Es wurde früher bereits erwähnt, daß wir die Zeit-
räume, in welchen die Arten durch allmähliche Umbildung entstanden
sind, nicht nach einzelnen Jahrtausenden berechnen müssen, sondern
nach Hunderten und nach Millionen von Jahrtausenden. Allein schon
die Dicke der geschichteten Erdrinde, die Erwägung der ungeheuern Zeit-
räume, welche zu ihrer Ablagerung aus dem Wasser erforderlich waren,
und der zwischen diesen Senkungszeiträumen verflossenen Hebungs-
zeiträume oder "Anteperioden" (S. 305) beweisen uns eine Zeitdauer
der organischen Erdgeschichte, welche unser menschliches Fassungsver-
mögen gänzlich übersteigt. Wir sind hier in derselben Lage, wie in
der Astronomie betreffs des unendlichen Raums. Wie wir die Ent-
fernungen der verschiedenen Planetensysteme nicht nach Meilen, sondern
nach Siriusweiten berechnen, von denen jede wieder Millionen Meilen
einschließt, so müssen wir in der organischen Erdgeschichte nicht nach
Jahrtausenden, sondern nach paläontologischen oder geologischen Pe-
rioden rechnen, von denen jede viele Jahrtausende, und manche viel-
leicht Millionen oder selbst Milliarden von Jahrtausenden umfaßt. Es

Unermeßlich lange Zeitraͤume der organiſchen Erdgeſchichte.
welche wir als die einzig wahre anerkennen, ſteht uͤberall in der Natur
geſchrieben, und jedem Menſchen mit geſunden Sinnen und geſunder
Vernunft ſteht es frei, in dieſem heiligen Tempel der Natur durch eige-
nes Forſchen und ſelbſtſtaͤndiges Erkennen der untruͤglichen Offenba-
rung theilhaftig zu werden.

Wenn wir demgemaͤß hier alle Einwuͤrfe gegen die Abſtammungs-
lehre unberuͤckſichtigt laſſen koͤnnen, die etwa von den Prieſtern der zahl-
loſen verſchiedenen Glaubensreligionen erhoben werden koͤnnten, ſo
werden wir dagegen nicht umhin koͤnnen, die wichtigſten von denjenigen
Einwaͤnden zu widerlegen, welche mehr oder weniger wiſſenſchaftlich
begruͤndet erſcheinen, und von denen man zugeſtehen muß, daß man
durch ſie auf den erſten Blick in gewiſſem Grade eingenommen und
von der Annahme der Abſtammungslehre zuruͤckgeſchreckt werden kann.
Unter dieſen Einwaͤnden erſcheint Vielen als der wichtigſte derjenige,
welcher die Zeitlaͤnge betrifft. Wir ſind nicht gewohnt, mit ſo un-
geheuern Zeitmaaßen umzugehen, wie ſie fuͤr die Schoͤpfungsgeſchichte
erforderlich ſind. Es wurde fruͤher bereits erwaͤhnt, daß wir die Zeit-
raͤume, in welchen die Arten durch allmaͤhliche Umbildung entſtanden
ſind, nicht nach einzelnen Jahrtauſenden berechnen muͤſſen, ſondern
nach Hunderten und nach Millionen von Jahrtauſenden. Allein ſchon
die Dicke der geſchichteten Erdrinde, die Erwaͤgung der ungeheuern Zeit-
raͤume, welche zu ihrer Ablagerung aus dem Waſſer erforderlich waren,
und der zwiſchen dieſen Senkungszeitraͤumen verfloſſenen Hebungs-
zeitraͤume oder „Anteperioden“ (S. 305) beweiſen uns eine Zeitdauer
der organiſchen Erdgeſchichte, welche unſer menſchliches Faſſungsver-
moͤgen gaͤnzlich uͤberſteigt. Wir ſind hier in derſelben Lage, wie in
der Aſtronomie betreffs des unendlichen Raums. Wie wir die Ent-
fernungen der verſchiedenen Planetenſyſteme nicht nach Meilen, ſondern
nach Siriusweiten berechnen, von denen jede wieder Millionen Meilen
einſchließt, ſo muͤſſen wir in der organiſchen Erdgeſchichte nicht nach
Jahrtauſenden, ſondern nach palaͤontologiſchen oder geologiſchen Pe-
rioden rechnen, von denen jede viele Jahrtauſende, und manche viel-
leicht Millionen oder ſelbſt Milliarden von Jahrtauſenden umfaßt. Es

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[523/0548] Unermeßlich lange Zeitraͤume der organiſchen Erdgeſchichte. welche wir als die einzig wahre anerkennen, ſteht uͤberall in der Natur geſchrieben, und jedem Menſchen mit geſunden Sinnen und geſunder Vernunft ſteht es frei, in dieſem heiligen Tempel der Natur durch eige- nes Forſchen und ſelbſtſtaͤndiges Erkennen der untruͤglichen Offenba- rung theilhaftig zu werden. Wenn wir demgemaͤß hier alle Einwuͤrfe gegen die Abſtammungs- lehre unberuͤckſichtigt laſſen koͤnnen, die etwa von den Prieſtern der zahl- loſen verſchiedenen Glaubensreligionen erhoben werden koͤnnten, ſo werden wir dagegen nicht umhin koͤnnen, die wichtigſten von denjenigen Einwaͤnden zu widerlegen, welche mehr oder weniger wiſſenſchaftlich begruͤndet erſcheinen, und von denen man zugeſtehen muß, daß man durch ſie auf den erſten Blick in gewiſſem Grade eingenommen und von der Annahme der Abſtammungslehre zuruͤckgeſchreckt werden kann. Unter dieſen Einwaͤnden erſcheint Vielen als der wichtigſte derjenige, welcher die Zeitlaͤnge betrifft. Wir ſind nicht gewohnt, mit ſo un- geheuern Zeitmaaßen umzugehen, wie ſie fuͤr die Schoͤpfungsgeſchichte erforderlich ſind. Es wurde fruͤher bereits erwaͤhnt, daß wir die Zeit- raͤume, in welchen die Arten durch allmaͤhliche Umbildung entſtanden ſind, nicht nach einzelnen Jahrtauſenden berechnen muͤſſen, ſondern nach Hunderten und nach Millionen von Jahrtauſenden. Allein ſchon die Dicke der geſchichteten Erdrinde, die Erwaͤgung der ungeheuern Zeit- raͤume, welche zu ihrer Ablagerung aus dem Waſſer erforderlich waren, und der zwiſchen dieſen Senkungszeitraͤumen verfloſſenen Hebungs- zeitraͤume oder „Anteperioden“ (S. 305) beweiſen uns eine Zeitdauer der organiſchen Erdgeſchichte, welche unſer menſchliches Faſſungsver- moͤgen gaͤnzlich uͤberſteigt. Wir ſind hier in derſelben Lage, wie in der Aſtronomie betreffs des unendlichen Raums. Wie wir die Ent- fernungen der verſchiedenen Planetenſyſteme nicht nach Meilen, ſondern nach Siriusweiten berechnen, von denen jede wieder Millionen Meilen einſchließt, ſo muͤſſen wir in der organiſchen Erdgeſchichte nicht nach Jahrtauſenden, ſondern nach palaͤontologiſchen oder geologiſchen Pe- rioden rechnen, von denen jede viele Jahrtauſende, und manche viel- leicht Millionen oder ſelbſt Milliarden von Jahrtauſenden umfaßt. Es

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/548>, abgerufen am 24.07.2024.