Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Raubthiere oder Carnarien.
heuren versteinerten Reste dieser colossalen Pflanzenfresser deuten dar-
auf hin, daß die ganze Legion im Aussterben begriffen und die heuti-
gen Zahnarmen nur ein dürftiger Rest von den gewaltigen Edentaten
der Diluvialzeit sind. Die nahen Beziehungen der noch heute leben-
den Edentaten Südamerikas zu den ausgestorbenen Riesenformen, die
sich neben jenen in demselben Erdtheil finden, machte auf Darwin
bei seinem ersten Besuche Südamerikas einen solchen Eindruck, daß
sie schon damals den Grundgedanken der Descendenztheorie in ihm
anregten (S. oben S. 107). Uebrigens ist die Genealogie grade die-
ser Legion sehr schwierig. Vielleicht sind die Edentaten nichts wei-
ter, als ein eigenthümlich entwickelter Seitenzweig der Ungulaten;
vielleicht liegt aber auch ihre Wurzel ganz wo anders.

Wir verlassen nun die erste Hauptgruppe der Placentner, die
Decidualosen, und wenden uns zur zweiten Hauptgruppe, den De-
ciduathieren
(Deciduata), welche sich von jenen so wesentlich durch
den Besitz einer hinfälligen Haut oder Decidua während des Embryo-
lebens unterscheiden. Hier begegnen wir zuerst einer sehr einheitlich orga-
nisirten und natürlichen Gruppe, nämlich der Ordnung der Raub-
thiere
(Carnaria). Sie werden wohl auch Gürtelplacentner (Zo-
noplacentalia)
im engeren Sinne genannt, obwohl eigentlich gleicher-
weise die Scheinhufer oder Chelophoren diese Bezeichnung verdienen.
Da aber diese letzteren im Uebrigen näher den Nagethieren als den
Raubthieren verwandt sind, werden wir sie dort besprechen. Die
Raubthiere zerfallen in zwei, äußerlich sehr verschiedene, aber innerlich
nächst verwandte Unterordnungen, die Landraubthiere und die See-
raubthiere. Zu den Landraubthieren (Carnivora) gehören die
Bären, Hunde, Katzen u. s. w., deren Stammbaum sich mit Hülfe
vieler ausgestorbener Zwischenformen annähernd errathen läßt. Zu
den Seeraubthieren oder Robben (Pinnipedia) gehören die See-
bären, Seehunde, Seelöwen, und als eigenthümliche angepaßte Sei-
tenlinie die Walrosse oder Walrobben. Obwohl die Seeraubthiere
äußerlich den Landraubthieren sehr unähnlich erscheinen, sind sie den-
selben dennoch durch ihren inneren Bau, ihr Gebiß und ihre eigen-

Raubthiere oder Carnarien.
heuren verſteinerten Reſte dieſer coloſſalen Pflanzenfreſſer deuten dar-
auf hin, daß die ganze Legion im Ausſterben begriffen und die heuti-
gen Zahnarmen nur ein duͤrftiger Reſt von den gewaltigen Edentaten
der Diluvialzeit ſind. Die nahen Beziehungen der noch heute leben-
den Edentaten Suͤdamerikas zu den ausgeſtorbenen Rieſenformen, die
ſich neben jenen in demſelben Erdtheil finden, machte auf Darwin
bei ſeinem erſten Beſuche Suͤdamerikas einen ſolchen Eindruck, daß
ſie ſchon damals den Grundgedanken der Deſcendenztheorie in ihm
anregten (S. oben S. 107). Uebrigens iſt die Genealogie grade die-
ſer Legion ſehr ſchwierig. Vielleicht ſind die Edentaten nichts wei-
ter, als ein eigenthuͤmlich entwickelter Seitenzweig der Ungulaten;
vielleicht liegt aber auch ihre Wurzel ganz wo anders.

Wir verlaſſen nun die erſte Hauptgruppe der Placentner, die
Decidualoſen, und wenden uns zur zweiten Hauptgruppe, den De-
ciduathieren
(Deciduata), welche ſich von jenen ſo weſentlich durch
den Beſitz einer hinfaͤlligen Haut oder Decidua waͤhrend des Embryo-
lebens unterſcheiden. Hier begegnen wir zuerſt einer ſehr einheitlich orga-
niſirten und natuͤrlichen Gruppe, naͤmlich der Ordnung der Raub-
thiere
(Carnaria). Sie werden wohl auch Guͤrtelplacentner (Zo-
noplacentalia)
im engeren Sinne genannt, obwohl eigentlich gleicher-
weiſe die Scheinhufer oder Chelophoren dieſe Bezeichnung verdienen.
Da aber dieſe letzteren im Uebrigen naͤher den Nagethieren als den
Raubthieren verwandt ſind, werden wir ſie dort beſprechen. Die
Raubthiere zerfallen in zwei, aͤußerlich ſehr verſchiedene, aber innerlich
naͤchſt verwandte Unterordnungen, die Landraubthiere und die See-
raubthiere. Zu den Landraubthieren (Carnivora) gehoͤren die
Baͤren, Hunde, Katzen u. ſ. w., deren Stammbaum ſich mit Huͤlfe
vieler ausgeſtorbener Zwiſchenformen annaͤhernd errathen laͤßt. Zu
den Seeraubthieren oder Robben (Pinnipedia) gehoͤren die See-
baͤren, Seehunde, Seeloͤwen, und als eigenthuͤmliche angepaßte Sei-
tenlinie die Walroſſe oder Walrobben. Obwohl die Seeraubthiere
aͤußerlich den Landraubthieren ſehr unaͤhnlich erſcheinen, ſind ſie den-
ſelben dennoch durch ihren inneren Bau, ihr Gebiß und ihre eigen-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0505" n="480"/><fw place="top" type="header">Raubthiere oder Carnarien.</fw><lb/>
heuren ver&#x017F;teinerten Re&#x017F;te die&#x017F;er colo&#x017F;&#x017F;alen Pflanzenfre&#x017F;&#x017F;er deuten dar-<lb/>
auf hin, daß die ganze Legion im Aus&#x017F;terben begriffen und die heuti-<lb/>
gen Zahnarmen nur ein du&#x0364;rftiger Re&#x017F;t von den gewaltigen Edentaten<lb/>
der Diluvialzeit &#x017F;ind. Die nahen Beziehungen der noch heute leben-<lb/>
den Edentaten Su&#x0364;damerikas zu den ausge&#x017F;torbenen Rie&#x017F;enformen, die<lb/>
&#x017F;ich neben jenen in dem&#x017F;elben Erdtheil finden, machte auf <hi rendition="#g">Darwin</hi><lb/>
bei &#x017F;einem er&#x017F;ten Be&#x017F;uche Su&#x0364;damerikas einen &#x017F;olchen Eindruck, daß<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;chon damals den Grundgedanken der De&#x017F;cendenztheorie in ihm<lb/>
anregten (S. oben S. 107). Uebrigens i&#x017F;t die Genealogie grade die-<lb/>
&#x017F;er Legion &#x017F;ehr &#x017F;chwierig. Vielleicht &#x017F;ind die Edentaten nichts wei-<lb/>
ter, als ein eigenthu&#x0364;mlich entwickelter Seitenzweig der Ungulaten;<lb/>
vielleicht liegt aber auch ihre Wurzel ganz wo anders.</p><lb/>
        <p>Wir verla&#x017F;&#x017F;en nun die er&#x017F;te Hauptgruppe der Placentner, die<lb/>
Decidualo&#x017F;en, und wenden uns zur zweiten Hauptgruppe, den <hi rendition="#g">De-<lb/>
ciduathieren</hi> <hi rendition="#aq">(Deciduata),</hi> welche &#x017F;ich von jenen &#x017F;o we&#x017F;entlich durch<lb/>
den Be&#x017F;itz einer hinfa&#x0364;lligen Haut oder Decidua wa&#x0364;hrend des Embryo-<lb/>
lebens unter&#x017F;cheiden. Hier begegnen wir zuer&#x017F;t einer &#x017F;ehr einheitlich orga-<lb/>
ni&#x017F;irten und natu&#x0364;rlichen Gruppe, na&#x0364;mlich der Ordnung der <hi rendition="#g">Raub-<lb/>
thiere</hi> <hi rendition="#aq">(Carnaria).</hi> Sie werden wohl auch <hi rendition="#g">Gu&#x0364;rtelplacentner</hi> <hi rendition="#aq">(Zo-<lb/>
noplacentalia)</hi> im engeren Sinne genannt, obwohl eigentlich gleicher-<lb/>
wei&#x017F;e die Scheinhufer oder Chelophoren die&#x017F;e Bezeichnung verdienen.<lb/>
Da aber die&#x017F;e letzteren im Uebrigen na&#x0364;her den Nagethieren als den<lb/>
Raubthieren verwandt &#x017F;ind, werden wir &#x017F;ie dort be&#x017F;prechen. Die<lb/>
Raubthiere zerfallen in zwei, a&#x0364;ußerlich &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedene, aber innerlich<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;t verwandte Unterordnungen, die Landraubthiere und die See-<lb/>
raubthiere. Zu den <hi rendition="#g">Landraubthieren</hi> <hi rendition="#aq">(Carnivora)</hi> geho&#x0364;ren die<lb/>
Ba&#x0364;ren, Hunde, Katzen u. &#x017F;. w., deren Stammbaum &#x017F;ich mit Hu&#x0364;lfe<lb/>
vieler ausge&#x017F;torbener Zwi&#x017F;chenformen anna&#x0364;hernd errathen la&#x0364;ßt. Zu<lb/>
den <hi rendition="#g">Seeraubthieren</hi> oder Robben <hi rendition="#aq">(Pinnipedia)</hi> geho&#x0364;ren die See-<lb/>
ba&#x0364;ren, Seehunde, Seelo&#x0364;wen, und als eigenthu&#x0364;mliche angepaßte Sei-<lb/>
tenlinie die Walro&#x017F;&#x017F;e oder Walrobben. Obwohl die Seeraubthiere<lb/>
a&#x0364;ußerlich den Landraubthieren &#x017F;ehr una&#x0364;hnlich er&#x017F;cheinen, &#x017F;ind &#x017F;ie den-<lb/>
&#x017F;elben dennoch durch ihren inneren Bau, ihr Gebiß und ihre eigen-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[480/0505] Raubthiere oder Carnarien. heuren verſteinerten Reſte dieſer coloſſalen Pflanzenfreſſer deuten dar- auf hin, daß die ganze Legion im Ausſterben begriffen und die heuti- gen Zahnarmen nur ein duͤrftiger Reſt von den gewaltigen Edentaten der Diluvialzeit ſind. Die nahen Beziehungen der noch heute leben- den Edentaten Suͤdamerikas zu den ausgeſtorbenen Rieſenformen, die ſich neben jenen in demſelben Erdtheil finden, machte auf Darwin bei ſeinem erſten Beſuche Suͤdamerikas einen ſolchen Eindruck, daß ſie ſchon damals den Grundgedanken der Deſcendenztheorie in ihm anregten (S. oben S. 107). Uebrigens iſt die Genealogie grade die- ſer Legion ſehr ſchwierig. Vielleicht ſind die Edentaten nichts wei- ter, als ein eigenthuͤmlich entwickelter Seitenzweig der Ungulaten; vielleicht liegt aber auch ihre Wurzel ganz wo anders. Wir verlaſſen nun die erſte Hauptgruppe der Placentner, die Decidualoſen, und wenden uns zur zweiten Hauptgruppe, den De- ciduathieren (Deciduata), welche ſich von jenen ſo weſentlich durch den Beſitz einer hinfaͤlligen Haut oder Decidua waͤhrend des Embryo- lebens unterſcheiden. Hier begegnen wir zuerſt einer ſehr einheitlich orga- niſirten und natuͤrlichen Gruppe, naͤmlich der Ordnung der Raub- thiere (Carnaria). Sie werden wohl auch Guͤrtelplacentner (Zo- noplacentalia) im engeren Sinne genannt, obwohl eigentlich gleicher- weiſe die Scheinhufer oder Chelophoren dieſe Bezeichnung verdienen. Da aber dieſe letzteren im Uebrigen naͤher den Nagethieren als den Raubthieren verwandt ſind, werden wir ſie dort beſprechen. Die Raubthiere zerfallen in zwei, aͤußerlich ſehr verſchiedene, aber innerlich naͤchſt verwandte Unterordnungen, die Landraubthiere und die See- raubthiere. Zu den Landraubthieren (Carnivora) gehoͤren die Baͤren, Hunde, Katzen u. ſ. w., deren Stammbaum ſich mit Huͤlfe vieler ausgeſtorbener Zwiſchenformen annaͤhernd errathen laͤßt. Zu den Seeraubthieren oder Robben (Pinnipedia) gehoͤren die See- baͤren, Seehunde, Seeloͤwen, und als eigenthuͤmliche angepaßte Sei- tenlinie die Walroſſe oder Walrobben. Obwohl die Seeraubthiere aͤußerlich den Landraubthieren ſehr unaͤhnlich erſcheinen, ſind ſie den- ſelben dennoch durch ihren inneren Bau, ihr Gebiß und ihre eigen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/505
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/505>, abgerufen am 22.11.2024.