Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Blutsverwandtschaft der Schädellosen und Seescheiden. wickelung aus dem Ei ursprünglich in derselben einfachsten Form an-gelegt, welche sie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erst später entwickelt sich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Rücken- mark das Gehirn, und aus dem Rückenstrang der das Gehirn um- schließende Schädel. Da bei dem Amphioxus diese beiden wichtigen Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, so können wir die durch ihn vertretene Thierklasse mit Recht als Schädellose (Acrania) be- zeichnen, im Gegensatz zu allen übrigen, den Schädelthieren (Cra- niota). Gewöhnlich werden die Schädellosen Rohrherzen oder Röh- renherzen (Leptocardia) genannt, weil ein centralisirtes Herz noch fehlt, und das Blut durch die Zusammenziehungen der röhrenförmigen Blutgefäße selbst im Körper umhergetrieben wird. Die Schädelthiere, welche dagegen ein centralisirtes, beutelförmiges Herz besitzen, müßten dann im Gegensatz dazu Beutelherzen oder Centralherzen (Pachycardia) genannt werden. Offenbar haben sich die Schädelthiere oder Centralherzen erst in Blutsverwandtſchaft der Schaͤdelloſen und Seeſcheiden. wickelung aus dem Ei urſpruͤnglich in derſelben einfachſten Form an-gelegt, welche ſie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erſt ſpaͤter entwickelt ſich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Ruͤcken- mark das Gehirn, und aus dem Ruͤckenſtrang der das Gehirn um- ſchließende Schaͤdel. Da bei dem Amphioxus dieſe beiden wichtigen Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, ſo koͤnnen wir die durch ihn vertretene Thierklaſſe mit Recht als Schaͤdelloſe (Acrania) be- zeichnen, im Gegenſatz zu allen uͤbrigen, den Schaͤdelthieren (Cra- niota). Gewoͤhnlich werden die Schaͤdelloſen Rohrherzen oder Roͤh- renherzen (Leptocardia) genannt, weil ein centraliſirtes Herz noch fehlt, und das Blut durch die Zuſammenziehungen der roͤhrenfoͤrmigen Blutgefaͤße ſelbſt im Koͤrper umhergetrieben wird. Die Schaͤdelthiere, welche dagegen ein centraliſirtes, beutelfoͤrmiges Herz beſitzen, muͤßten dann im Gegenſatz dazu Beutelherzen oder Centralherzen (Pachycardia) genannt werden. Offenbar haben ſich die Schaͤdelthiere oder Centralherzen erſt in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0463" n="438"/><fw place="top" type="header">Blutsverwandtſchaft der Schaͤdelloſen und Seeſcheiden.</fw><lb/> wickelung aus dem Ei urſpruͤnglich in derſelben einfachſten Form an-<lb/> gelegt, welche ſie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erſt ſpaͤter<lb/> entwickelt ſich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Ruͤcken-<lb/> mark das Gehirn, und aus dem Ruͤckenſtrang der das Gehirn um-<lb/> ſchließende Schaͤdel. Da bei dem Amphioxus dieſe beiden wichtigen<lb/> Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, ſo koͤnnen wir die durch<lb/> ihn vertretene Thierklaſſe mit Recht als <hi rendition="#g">Schaͤdelloſe</hi> <hi rendition="#aq">(Acrania)</hi> be-<lb/> zeichnen, im Gegenſatz zu allen uͤbrigen, den <hi rendition="#g">Schaͤdelthieren</hi> <hi rendition="#aq">(Cra-<lb/> niota).</hi> Gewoͤhnlich werden die Schaͤdelloſen <hi rendition="#g">Rohrherzen</hi> oder <hi rendition="#g">Roͤh-<lb/> renherzen</hi> <hi rendition="#aq">(Leptocardia)</hi> genannt, weil ein centraliſirtes Herz noch<lb/> fehlt, und das Blut durch die Zuſammenziehungen der roͤhrenfoͤrmigen<lb/> Blutgefaͤße ſelbſt im Koͤrper umhergetrieben wird. Die Schaͤdelthiere,<lb/> welche dagegen ein centraliſirtes, beutelfoͤrmiges Herz beſitzen, muͤßten<lb/> dann im Gegenſatz dazu <hi rendition="#g">Beutelherzen oder Centralherzen</hi><lb/><hi rendition="#aq">(Pachycardia)</hi> genannt werden.</p><lb/> <p>Offenbar haben ſich die Schaͤdelthiere oder Centralherzen erſt in<lb/> ſpaͤterer Primordialzeit aus Schaͤdelloſen oder Rohrherzen, welche dem<lb/> Amphioxus nahe ſtanden, allmaͤhlich entwickelt. Daruͤber laͤßt uns<lb/> die Ontogenie der Schaͤdelthiere nicht in Zweifel. Wo ſtammen nun<lb/> aber dieſe Schaͤdelloſen ſelbſt her? Auf dieſe wichtige Frage hat uns,<lb/> wie ich ſchon im letzten Vortrage erwaͤhnte, erſt die juͤngſte Zeit eine<lb/> hoͤchſt uͤberraſchende Antwort gegeben. Aus den 1867 veroͤffentlichten<lb/> Unterſuchungen von Kowalewski uͤber die individuelle Entwickelung<lb/> des Amphioxus und der feſtſitzenden Seeſcheiden <hi rendition="#aq">(Ascidiae)</hi> [aus der<lb/> Klaſſe der Mantelthiere <hi rendition="#aq">(Tunicata)</hi>] hat ſich ergeben, daß die Onto-<lb/> genie dieſer beiden ganz verſchiedenen Thierformen in ihrer erſten Ju-<lb/> gend merkwuͤrdig uͤbereinſtimmt. Die frei umherſchwimmenden Lar-<lb/> ven der Ascidien entwickeln die unzweifelhafte Anlage zum Ruͤcken-<lb/> mark und zum Ruͤckenſtrang, und zwar ganz in derſelben Weiſe, wie<lb/> der Amphioxus. Allerdings bilden ſie dieſe wichtigſten Organe des<lb/> Wirbelthierkoͤrpers ſpaͤterhin nicht weiter aus. Vielmehr gehen ſie<lb/> eine ruͤckſchreitende Verwandlung ein, ſetzen ſich auf dem Meeresbo-<lb/> den feſt, und wachſen zu unfoͤrmlichen Klumpen aus, in denen man<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [438/0463]
Blutsverwandtſchaft der Schaͤdelloſen und Seeſcheiden.
wickelung aus dem Ei urſpruͤnglich in derſelben einfachſten Form an-
gelegt, welche ſie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erſt ſpaͤter
entwickelt ſich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Ruͤcken-
mark das Gehirn, und aus dem Ruͤckenſtrang der das Gehirn um-
ſchließende Schaͤdel. Da bei dem Amphioxus dieſe beiden wichtigen
Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, ſo koͤnnen wir die durch
ihn vertretene Thierklaſſe mit Recht als Schaͤdelloſe (Acrania) be-
zeichnen, im Gegenſatz zu allen uͤbrigen, den Schaͤdelthieren (Cra-
niota). Gewoͤhnlich werden die Schaͤdelloſen Rohrherzen oder Roͤh-
renherzen (Leptocardia) genannt, weil ein centraliſirtes Herz noch
fehlt, und das Blut durch die Zuſammenziehungen der roͤhrenfoͤrmigen
Blutgefaͤße ſelbſt im Koͤrper umhergetrieben wird. Die Schaͤdelthiere,
welche dagegen ein centraliſirtes, beutelfoͤrmiges Herz beſitzen, muͤßten
dann im Gegenſatz dazu Beutelherzen oder Centralherzen
(Pachycardia) genannt werden.
Offenbar haben ſich die Schaͤdelthiere oder Centralherzen erſt in
ſpaͤterer Primordialzeit aus Schaͤdelloſen oder Rohrherzen, welche dem
Amphioxus nahe ſtanden, allmaͤhlich entwickelt. Daruͤber laͤßt uns
die Ontogenie der Schaͤdelthiere nicht in Zweifel. Wo ſtammen nun
aber dieſe Schaͤdelloſen ſelbſt her? Auf dieſe wichtige Frage hat uns,
wie ich ſchon im letzten Vortrage erwaͤhnte, erſt die juͤngſte Zeit eine
hoͤchſt uͤberraſchende Antwort gegeben. Aus den 1867 veroͤffentlichten
Unterſuchungen von Kowalewski uͤber die individuelle Entwickelung
des Amphioxus und der feſtſitzenden Seeſcheiden (Ascidiae) [aus der
Klaſſe der Mantelthiere (Tunicata)] hat ſich ergeben, daß die Onto-
genie dieſer beiden ganz verſchiedenen Thierformen in ihrer erſten Ju-
gend merkwuͤrdig uͤbereinſtimmt. Die frei umherſchwimmenden Lar-
ven der Ascidien entwickeln die unzweifelhafte Anlage zum Ruͤcken-
mark und zum Ruͤckenſtrang, und zwar ganz in derſelben Weiſe, wie
der Amphioxus. Allerdings bilden ſie dieſe wichtigſten Organe des
Wirbelthierkoͤrpers ſpaͤterhin nicht weiter aus. Vielmehr gehen ſie
eine ruͤckſchreitende Verwandlung ein, ſetzen ſich auf dem Meeresbo-
den feſt, und wachſen zu unfoͤrmlichen Klumpen aus, in denen man
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |