Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Unentbehrlichkeit der Descendenztheorie in der Biologie. verschiedenartigen Organismen ist nur eine Hypothese; wir stellen ihreine andere entgegen, die Hypothese, daß die einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht durch Abstammung sich auseinander entwickelt ha- ben, sondern daß sie unabhängig von einander durch ein noch unent- decktes Naturgesetz entstanden sind." So lange aber nicht gezeigt wird, wie diese Entstehung zu denken ist, und was das für ein "Naturgesetz" ist, so lange nicht einmal wahrscheinliche Erklärungsgründe gel- tend gemacht werden können, welche für eine unabhängige Entstehung der Thier- und Pflanzenarten sprechen, so lange ist diese Gegenhypo- these in der That keine Hypothese, sondern eine leere, nichtssagende Redensart. Auch verdient Darwins Theorie nicht den Namen einer Hypothese. Denn eine wissenschaftliche Hypothese ist eine Annahme, welche sich auf unbekannte, bisher noch nicht durch die sinnliche Er- fahrung wahrgenommene Eigenschaften oder Bewegungserscheinungen der Naturkörper stützt. Darwins Lehre aber nimmt keine derarti- gen unbekannten Verhältnisse an; sie gründet sich auf längst anerkannte allgemeine Eigenschaften der Organismen, und es ist, wie bemerkt, die außerordentliche geistvolle, umfassende Verbindung einer Menge bisher vereinzelt dagestandener Erscheinungen, welche dieser Theorie ihren außerordentlich hohen inneren Werth gibt. Wir gelangen durch sie zum ersten Mal in die Lage, für die Gesammtheit aller uns be- kannten morphologischen Erscheinungen in der Thier- und Pflanzen- welt eine bewirkenden Ursache nachzuweisen; und zwar ist diese wahre Ursache immer eine und dieselbe, nämlich die Wechselwirkung der An- passung und der Vererbung, also ein physiologisches, d. h. ein physi- kalisch-chemisches oder ein mechanisches Verhältniß. Aus diesen Grün- den ist die Annahme der durch Darwin mechanisch begründeten Ab- stammungslehre für die gesammte Zoologie und Botanik eine zwin- gende und unabweisbare Nothwendigkeit. Da nach meiner Ansicht also die unermeßliche Bedeutung von Unentbehrlichkeit der Deſcendenztheorie in der Biologie. verſchiedenartigen Organismen iſt nur eine Hypotheſe; wir ſtellen ihreine andere entgegen, die Hypotheſe, daß die einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht durch Abſtammung ſich auseinander entwickelt ha- ben, ſondern daß ſie unabhaͤngig von einander durch ein noch unent- decktes Naturgeſetz entſtanden ſind.“ So lange aber nicht gezeigt wird, wie dieſe Entſtehung zu denken iſt, und was das fuͤr ein „Naturgeſetz“ iſt, ſo lange nicht einmal wahrſcheinliche Erklaͤrungsgruͤnde gel- tend gemacht werden koͤnnen, welche fuͤr eine unabhaͤngige Entſtehung der Thier- und Pflanzenarten ſprechen, ſo lange iſt dieſe Gegenhypo- theſe in der That keine Hypotheſe, ſondern eine leere, nichtsſagende Redensart. Auch verdient Darwins Theorie nicht den Namen einer Hypotheſe. Denn eine wiſſenſchaftliche Hypotheſe iſt eine Annahme, welche ſich auf unbekannte, bisher noch nicht durch die ſinnliche Er- fahrung wahrgenommene Eigenſchaften oder Bewegungserſcheinungen der Naturkoͤrper ſtuͤtzt. Darwins Lehre aber nimmt keine derarti- gen unbekannten Verhaͤltniſſe an; ſie gruͤndet ſich auf laͤngſt anerkannte allgemeine Eigenſchaften der Organismen, und es iſt, wie bemerkt, die außerordentliche geiſtvolle, umfaſſende Verbindung einer Menge bisher vereinzelt dageſtandener Erſcheinungen, welche dieſer Theorie ihren außerordentlich hohen inneren Werth gibt. Wir gelangen durch ſie zum erſten Mal in die Lage, fuͤr die Geſammtheit aller uns be- kannten morphologiſchen Erſcheinungen in der Thier- und Pflanzen- welt eine bewirkenden Urſache nachzuweiſen; und zwar iſt dieſe wahre Urſache immer eine und dieſelbe, naͤmlich die Wechſelwirkung der An- paſſung und der Vererbung, alſo ein phyſiologiſches, d. h. ein phyſi- kaliſch-chemiſches oder ein mechaniſches Verhaͤltniß. Aus dieſen Gruͤn- den iſt die Annahme der durch Darwin mechaniſch begruͤndeten Ab- ſtammungslehre fuͤr die geſammte Zoologie und Botanik eine zwin- gende und unabweisbare Nothwendigkeit. Da nach meiner Anſicht alſo die unermeßliche Bedeutung von <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0046" n="25"/><fw place="top" type="header">Unentbehrlichkeit der Deſcendenztheorie in der Biologie.</fw><lb/> verſchiedenartigen Organismen iſt nur <hi rendition="#g">eine</hi> Hypotheſe; wir ſtellen ihr<lb/> eine <hi rendition="#g">andere</hi> entgegen, die Hypotheſe, daß die einzelnen Thier- und<lb/> Pflanzenarten nicht durch Abſtammung ſich auseinander entwickelt ha-<lb/> ben, ſondern daß ſie unabhaͤngig von einander durch ein noch unent-<lb/> decktes Naturgeſetz entſtanden ſind.“ So lange aber nicht gezeigt wird,<lb/><hi rendition="#g">wie</hi> dieſe Entſtehung zu denken iſt, und <hi rendition="#g">was</hi> das fuͤr ein „Naturgeſetz“<lb/> iſt, ſo lange nicht einmal <hi rendition="#g">wahrſcheinliche</hi> Erklaͤrungsgruͤnde gel-<lb/> tend gemacht werden koͤnnen, welche fuͤr eine unabhaͤngige Entſtehung<lb/> der Thier- und Pflanzenarten ſprechen, ſo lange iſt dieſe Gegenhypo-<lb/> theſe in der That keine Hypotheſe, ſondern eine leere, nichtsſagende<lb/> Redensart. Auch verdient <hi rendition="#g">Darwins</hi> Theorie nicht den Namen einer<lb/> Hypotheſe. Denn eine wiſſenſchaftliche Hypotheſe iſt eine Annahme,<lb/> welche ſich auf unbekannte, bisher noch nicht durch die ſinnliche Er-<lb/> fahrung wahrgenommene Eigenſchaften oder Bewegungserſcheinungen<lb/> der Naturkoͤrper ſtuͤtzt. <hi rendition="#g">Darwins</hi> Lehre aber nimmt keine derarti-<lb/> gen unbekannten Verhaͤltniſſe an; ſie gruͤndet ſich auf laͤngſt anerkannte<lb/> allgemeine Eigenſchaften der Organismen, und es iſt, wie bemerkt,<lb/> die außerordentliche geiſtvolle, umfaſſende Verbindung einer Menge<lb/> bisher vereinzelt dageſtandener Erſcheinungen, welche dieſer Theorie<lb/> ihren außerordentlich hohen inneren Werth gibt. Wir gelangen durch<lb/> ſie zum erſten Mal in die Lage, fuͤr die Geſammtheit aller uns be-<lb/> kannten morphologiſchen Erſcheinungen in der Thier- und Pflanzen-<lb/> welt eine bewirkenden Urſache nachzuweiſen; und zwar iſt dieſe wahre<lb/> Urſache immer eine und dieſelbe, naͤmlich die Wechſelwirkung der An-<lb/> paſſung und der Vererbung, alſo ein phyſiologiſches, d. h. ein phyſi-<lb/> kaliſch-chemiſches oder ein mechaniſches Verhaͤltniß. Aus dieſen Gruͤn-<lb/> den iſt die Annahme der durch <hi rendition="#g">Darwin</hi> mechaniſch begruͤndeten Ab-<lb/> ſtammungslehre fuͤr die geſammte Zoologie und Botanik eine zwin-<lb/> gende und unabweisbare <hi rendition="#g">Nothwendigkeit.</hi></p><lb/> <p>Da nach meiner Anſicht alſo die unermeßliche Bedeutung von<lb/><hi rendition="#g">Darwins</hi> Lehre darin liegt, daß ſie die bisher nicht erklaͤrten <hi rendition="#g">or-<lb/> ganiſchen Formerſcheinungen mechaniſch erklaͤrt,</hi> ſo iſt es<lb/> wohl nothwendig, hier gleich noch ein Wort uͤber den vieldeutigen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [25/0046]
Unentbehrlichkeit der Deſcendenztheorie in der Biologie.
verſchiedenartigen Organismen iſt nur eine Hypotheſe; wir ſtellen ihr
eine andere entgegen, die Hypotheſe, daß die einzelnen Thier- und
Pflanzenarten nicht durch Abſtammung ſich auseinander entwickelt ha-
ben, ſondern daß ſie unabhaͤngig von einander durch ein noch unent-
decktes Naturgeſetz entſtanden ſind.“ So lange aber nicht gezeigt wird,
wie dieſe Entſtehung zu denken iſt, und was das fuͤr ein „Naturgeſetz“
iſt, ſo lange nicht einmal wahrſcheinliche Erklaͤrungsgruͤnde gel-
tend gemacht werden koͤnnen, welche fuͤr eine unabhaͤngige Entſtehung
der Thier- und Pflanzenarten ſprechen, ſo lange iſt dieſe Gegenhypo-
theſe in der That keine Hypotheſe, ſondern eine leere, nichtsſagende
Redensart. Auch verdient Darwins Theorie nicht den Namen einer
Hypotheſe. Denn eine wiſſenſchaftliche Hypotheſe iſt eine Annahme,
welche ſich auf unbekannte, bisher noch nicht durch die ſinnliche Er-
fahrung wahrgenommene Eigenſchaften oder Bewegungserſcheinungen
der Naturkoͤrper ſtuͤtzt. Darwins Lehre aber nimmt keine derarti-
gen unbekannten Verhaͤltniſſe an; ſie gruͤndet ſich auf laͤngſt anerkannte
allgemeine Eigenſchaften der Organismen, und es iſt, wie bemerkt,
die außerordentliche geiſtvolle, umfaſſende Verbindung einer Menge
bisher vereinzelt dageſtandener Erſcheinungen, welche dieſer Theorie
ihren außerordentlich hohen inneren Werth gibt. Wir gelangen durch
ſie zum erſten Mal in die Lage, fuͤr die Geſammtheit aller uns be-
kannten morphologiſchen Erſcheinungen in der Thier- und Pflanzen-
welt eine bewirkenden Urſache nachzuweiſen; und zwar iſt dieſe wahre
Urſache immer eine und dieſelbe, naͤmlich die Wechſelwirkung der An-
paſſung und der Vererbung, alſo ein phyſiologiſches, d. h. ein phyſi-
kaliſch-chemiſches oder ein mechaniſches Verhaͤltniß. Aus dieſen Gruͤn-
den iſt die Annahme der durch Darwin mechaniſch begruͤndeten Ab-
ſtammungslehre fuͤr die geſammte Zoologie und Botanik eine zwin-
gende und unabweisbare Nothwendigkeit.
Da nach meiner Anſicht alſo die unermeßliche Bedeutung von
Darwins Lehre darin liegt, daß ſie die bisher nicht erklaͤrten or-
ganiſchen Formerſcheinungen mechaniſch erklaͤrt, ſo iſt es
wohl nothwendig, hier gleich noch ein Wort uͤber den vieldeutigen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |