Die vier Klassen der Wirbelthiere von Linne und Lamarck.
unbestreitbare Thatsache erkannt haben, daß derselbe in seiner Ent- wickelung aus dem Ei anfänglich nicht von den übrigen Wirbelthieren, und namentlich den Säugethieren verschieden ist, so müssen wir noth- wendig mit Beziehung auf seine paläontologische Entwickelungsge- schichte schließen, daß das Menschengeschlecht sich historisch wirklich aus niederen Wirbelthieren entwickelt hat, und daß dasselbe zunächst von den Säugethieren abstammt. Dieser Umstand allein schon (ab- gesehen von dem vielseitigen höheren Jnteresse, das auch in anderer Beziehung die Wirbelthiere vor den übrigen Organismen in Anspruch nehmen) wird es rechtfertigen, daß wir den Stammbaum der Wir- belthiere und dessen Ausdruck, das natürliche System, hier besonders genau untersuchen.
Die Bezeichnung Wirbelthiere(Vertebrata) rührt, wie ich schon im letzten Vortrage erwähnte, von dem großen Lamarck her, welcher zuerst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unter diesem Namen die vier oberen Thierklassen Linne's zusammenfaßte: die Säu- gethiere, Vögel, Amphibien und Fische. Die beiden niederen Klassen Linne's, die Jnsecten und Würmer, stellte Lamarck den Wirbel- thieren gegenüber als Wirbellose (Invertebrata, später auch Ever- tebrata genannt).
Die Eintheilung der Wirbelthiere in die vier genannten Klassen wurde auch von Cuvier und seinen Nachfolgern, und in Folge dessen von vielen Zoologen noch bis auf die Gegenwart festgehalten. Aber schon 1822 erkannte der ausgezeichnete Anatom Blainville aus der vergleichenden Anatomie, und fast gleichzeitig unser großer Embryo- loge Bär aus der Ontogenie der Wirbelthiere, daß Linne's Klasse der Amphibien eine unnatürliche Vereinigung von zwei ganz verschie- denen Klassen sei. Diese beiden Klassen hatte schon 1820 Merrem als zwei Hauptgruppen der Amphibien unter den Namen der Pholi- doten und Batrachier getrennt. Die Batrachier, welche heutzutage gewöhnlich als Amphibien (im engeren Sinne!) bezeichnet werden, umfassen die Frösche, Salamander, Kiemenmolche, Cäcilien und die ausgestorbenen Labyrinthodonten. Sie schließen sich in ihrer
Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linné und Lamarck.
unbeſtreitbare Thatſache erkannt haben, daß derſelbe in ſeiner Ent- wickelung aus dem Ei anfaͤnglich nicht von den uͤbrigen Wirbelthieren, und namentlich den Saͤugethieren verſchieden iſt, ſo muͤſſen wir noth- wendig mit Beziehung auf ſeine palaͤontologiſche Entwickelungsge- ſchichte ſchließen, daß das Menſchengeſchlecht ſich hiſtoriſch wirklich aus niederen Wirbelthieren entwickelt hat, und daß daſſelbe zunaͤchſt von den Saͤugethieren abſtammt. Dieſer Umſtand allein ſchon (ab- geſehen von dem vielſeitigen hoͤheren Jntereſſe, das auch in anderer Beziehung die Wirbelthiere vor den uͤbrigen Organismen in Anſpruch nehmen) wird es rechtfertigen, daß wir den Stammbaum der Wir- belthiere und deſſen Ausdruck, das natuͤrliche Syſtem, hier beſonders genau unterſuchen.
Die Bezeichnung Wirbelthiere(Vertebrata) ruͤhrt, wie ich ſchon im letzten Vortrage erwaͤhnte, von dem großen Lamarck her, welcher zuerſt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unter dieſem Namen die vier oberen Thierklaſſen Linné’s zuſammenfaßte: die Saͤu- gethiere, Voͤgel, Amphibien und Fiſche. Die beiden niederen Klaſſen Linné’s, die Jnſecten und Wuͤrmer, ſtellte Lamarck den Wirbel- thieren gegenuͤber als Wirbelloſe (Invertebrata, ſpaͤter auch Ever- tebrata genannt).
Die Eintheilung der Wirbelthiere in die vier genannten Klaſſen wurde auch von Cuvier und ſeinen Nachfolgern, und in Folge deſſen von vielen Zoologen noch bis auf die Gegenwart feſtgehalten. Aber ſchon 1822 erkannte der ausgezeichnete Anatom Blainville aus der vergleichenden Anatomie, und faſt gleichzeitig unſer großer Embryo- loge Baͤr aus der Ontogenie der Wirbelthiere, daß Linné’s Klaſſe der Amphibien eine unnatuͤrliche Vereinigung von zwei ganz verſchie- denen Klaſſen ſei. Dieſe beiden Klaſſen hatte ſchon 1820 Merrem als zwei Hauptgruppen der Amphibien unter den Namen der Pholi- doten und Batrachier getrennt. Die Batrachier, welche heutzutage gewoͤhnlich als Amphibien (im engeren Sinne!) bezeichnet werden, umfaſſen die Froͤſche, Salamander, Kiemenmolche, Caͤcilien und die ausgeſtorbenen Labyrinthodonten. Sie ſchließen ſich in ihrer
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0459"n="434"/><fwplace="top"type="header">Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linn<hirendition="#aq">é</hi> und Lamarck.</fw><lb/>
unbeſtreitbare Thatſache erkannt haben, daß derſelbe in ſeiner Ent-<lb/>
wickelung aus dem Ei anfaͤnglich nicht von den uͤbrigen Wirbelthieren,<lb/>
und namentlich den Saͤugethieren verſchieden iſt, ſo muͤſſen wir noth-<lb/>
wendig mit Beziehung auf ſeine palaͤontologiſche Entwickelungsge-<lb/>ſchichte ſchließen, daß das Menſchengeſchlecht ſich hiſtoriſch wirklich<lb/>
aus niederen Wirbelthieren entwickelt hat, und daß daſſelbe zunaͤchſt<lb/>
von den Saͤugethieren abſtammt. Dieſer Umſtand allein ſchon (ab-<lb/>
geſehen von dem vielſeitigen hoͤheren Jntereſſe, das auch in anderer<lb/>
Beziehung die Wirbelthiere vor den uͤbrigen Organismen in Anſpruch<lb/>
nehmen) wird es rechtfertigen, daß wir den Stammbaum der Wir-<lb/>
belthiere und deſſen Ausdruck, das natuͤrliche Syſtem, hier beſonders<lb/>
genau unterſuchen.</p><lb/><p>Die Bezeichnung <hirendition="#g">Wirbelthiere</hi><hirendition="#aq">(Vertebrata)</hi> ruͤhrt, wie ich<lb/>ſchon im letzten Vortrage erwaͤhnte, von dem großen <hirendition="#g">Lamarck</hi> her,<lb/>
welcher zuerſt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unter dieſem<lb/>
Namen die vier oberen Thierklaſſen <hirendition="#g">Linn<hirendition="#aq">é</hi>’s</hi> zuſammenfaßte: die Saͤu-<lb/>
gethiere, Voͤgel, Amphibien und Fiſche. Die beiden niederen Klaſſen<lb/><hirendition="#g">Linn<hirendition="#aq">é</hi>’s,</hi> die Jnſecten und Wuͤrmer, ſtellte <hirendition="#g">Lamarck</hi> den Wirbel-<lb/>
thieren gegenuͤber als <hirendition="#g">Wirbelloſe</hi> (<hirendition="#aq">Invertebrata,</hi>ſpaͤter auch <hirendition="#aq">Ever-<lb/>
tebrata</hi> genannt).</p><lb/><p>Die Eintheilung der Wirbelthiere in die vier genannten Klaſſen<lb/>
wurde auch von <hirendition="#g">Cuvier</hi> und ſeinen Nachfolgern, und in Folge deſſen<lb/>
von vielen Zoologen noch bis auf die Gegenwart feſtgehalten. Aber<lb/>ſchon 1822 erkannte der ausgezeichnete Anatom <hirendition="#g">Blainville</hi> aus der<lb/>
vergleichenden Anatomie, und faſt gleichzeitig unſer großer Embryo-<lb/>
loge <hirendition="#g">Baͤr</hi> aus der Ontogenie der Wirbelthiere, daß <hirendition="#g">Linn<hirendition="#aq">é</hi>’s</hi> Klaſſe<lb/>
der Amphibien eine unnatuͤrliche Vereinigung von zwei ganz verſchie-<lb/>
denen Klaſſen ſei. Dieſe beiden Klaſſen hatte ſchon 1820 <hirendition="#g">Merrem</hi><lb/>
als zwei Hauptgruppen der Amphibien unter den Namen der Pholi-<lb/>
doten und Batrachier getrennt. Die <hirendition="#g">Batrachier,</hi> welche heutzutage<lb/>
gewoͤhnlich als <hirendition="#g">Amphibien (im engeren Sinne!)</hi> bezeichnet<lb/>
werden, umfaſſen die Froͤſche, Salamander, Kiemenmolche, Caͤcilien<lb/>
und die ausgeſtorbenen Labyrinthodonten. Sie ſchließen ſich in ihrer<lb/></p></div></body></text></TEI>
[434/0459]
Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linné und Lamarck.
unbeſtreitbare Thatſache erkannt haben, daß derſelbe in ſeiner Ent-
wickelung aus dem Ei anfaͤnglich nicht von den uͤbrigen Wirbelthieren,
und namentlich den Saͤugethieren verſchieden iſt, ſo muͤſſen wir noth-
wendig mit Beziehung auf ſeine palaͤontologiſche Entwickelungsge-
ſchichte ſchließen, daß das Menſchengeſchlecht ſich hiſtoriſch wirklich
aus niederen Wirbelthieren entwickelt hat, und daß daſſelbe zunaͤchſt
von den Saͤugethieren abſtammt. Dieſer Umſtand allein ſchon (ab-
geſehen von dem vielſeitigen hoͤheren Jntereſſe, das auch in anderer
Beziehung die Wirbelthiere vor den uͤbrigen Organismen in Anſpruch
nehmen) wird es rechtfertigen, daß wir den Stammbaum der Wir-
belthiere und deſſen Ausdruck, das natuͤrliche Syſtem, hier beſonders
genau unterſuchen.
Die Bezeichnung Wirbelthiere (Vertebrata) ruͤhrt, wie ich
ſchon im letzten Vortrage erwaͤhnte, von dem großen Lamarck her,
welcher zuerſt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unter dieſem
Namen die vier oberen Thierklaſſen Linné’s zuſammenfaßte: die Saͤu-
gethiere, Voͤgel, Amphibien und Fiſche. Die beiden niederen Klaſſen
Linné’s, die Jnſecten und Wuͤrmer, ſtellte Lamarck den Wirbel-
thieren gegenuͤber als Wirbelloſe (Invertebrata, ſpaͤter auch Ever-
tebrata genannt).
Die Eintheilung der Wirbelthiere in die vier genannten Klaſſen
wurde auch von Cuvier und ſeinen Nachfolgern, und in Folge deſſen
von vielen Zoologen noch bis auf die Gegenwart feſtgehalten. Aber
ſchon 1822 erkannte der ausgezeichnete Anatom Blainville aus der
vergleichenden Anatomie, und faſt gleichzeitig unſer großer Embryo-
loge Baͤr aus der Ontogenie der Wirbelthiere, daß Linné’s Klaſſe
der Amphibien eine unnatuͤrliche Vereinigung von zwei ganz verſchie-
denen Klaſſen ſei. Dieſe beiden Klaſſen hatte ſchon 1820 Merrem
als zwei Hauptgruppen der Amphibien unter den Namen der Pholi-
doten und Batrachier getrennt. Die Batrachier, welche heutzutage
gewoͤhnlich als Amphibien (im engeren Sinne!) bezeichnet
werden, umfaſſen die Froͤſche, Salamander, Kiemenmolche, Caͤcilien
und die ausgeſtorbenen Labyrinthodonten. Sie ſchließen ſich in ihrer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/459>, abgerufen am 04.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.