Linien oder selbst einigen Zollen. Was ihnen aber an Körpergröße abgeht, ersetzen sie durch die Production erstaunlicher Massen von Jn- dividuen, und greifen dadurch oft sehr bedeutend in die Oekonomie der Natur ein. Die unverweslichen Ueberreste der gestorbenen Pro- tisten, wie die Kieselschalen der Diatomeen und Radiolarien, die Kalk- schalen der Acyttarien, setzen oft dicke Gebirgsschichten zusammen.
Jn ihren Lebenserscheinungen, insbesondere in Bezug auf Ernährung und Fortpflanzung, schließen sich die einen Protisten mehr den Pflanzen, die anderen mehr den Thieren an. Die Nahrungsauf- nahme sowohl als der Stoffwechsel gleicht bald mehr denjenigen der niederen Thiere, bald mehr denjenigen der niederen Pflanzen. Die meisten Protisten aber zeigen gerade hierin eine merkwürdige Mittel- stellung zwischen beiden Reichen. Freie Ortsbewegung kommt vielen Protisten zu, während sie anderen fehlt; allein hierin liegt gar kein entscheidender Charakter, da wir auch unzweifelhafte Thiere ken- nen, denen die freie Ortsbewegung ganz abgeht, und echte Pflanzen, welche dieselbe besitzen. Eine Seele besitzen alle Protisten, so gut wie alle Thiere und wie alle Pflanzen. Die Seele scheint bei vielen Protisten sehr zarter Empfindungen fähig zu sein; wenigstens sind die- selben oft höchst reizbar. Dagegen scheint der Wille bei den Meisten sehr schwach entwickelt zu sein, und ob irgend ein Protist selbstständiges Denkvermögen besitzt, ist sehr zweifelhaft. Allein das Denkvermögen fehlt in gleichem Grade auch vielen niederen Thieren, während viele von den höheren Thieren ebenso klar und oft folgerichtiger als viele niedere Menschen denken.
Der wichtigste physiologische Charakter des Protisten- reichs liegt in der ausschließlich ungeschlechtlichen Fort- pflanzung aller hierher gehörigen Organismen. Die höheren Thiere und Pflanzen pflanzen sich fast ausschließlich nur auf geschlecht- lichem Wege fort. Die niederen Thiere und Pflanzen vermehren sich zwar auch vielfach auf ungeschlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung, Keimbildung u. s. w. Allein daneben findet sich bei denselben doch fast immer noch die geschlechtliche Fortpflanzung, oft
Lebenserſcheinungen der Urweſen oder Protiſten.
Linien oder ſelbſt einigen Zollen. Was ihnen aber an Koͤrpergroͤße abgeht, erſetzen ſie durch die Production erſtaunlicher Maſſen von Jn- dividuen, und greifen dadurch oft ſehr bedeutend in die Oekonomie der Natur ein. Die unverweslichen Ueberreſte der geſtorbenen Pro- tiſten, wie die Kieſelſchalen der Diatomeen und Radiolarien, die Kalk- ſchalen der Acyttarien, ſetzen oft dicke Gebirgsſchichten zuſammen.
Jn ihren Lebenserſcheinungen, insbeſondere in Bezug auf Ernaͤhrung und Fortpflanzung, ſchließen ſich die einen Protiſten mehr den Pflanzen, die anderen mehr den Thieren an. Die Nahrungsauf- nahme ſowohl als der Stoffwechſel gleicht bald mehr denjenigen der niederen Thiere, bald mehr denjenigen der niederen Pflanzen. Die meiſten Protiſten aber zeigen gerade hierin eine merkwuͤrdige Mittel- ſtellung zwiſchen beiden Reichen. Freie Ortsbewegung kommt vielen Protiſten zu, waͤhrend ſie anderen fehlt; allein hierin liegt gar kein entſcheidender Charakter, da wir auch unzweifelhafte Thiere ken- nen, denen die freie Ortsbewegung ganz abgeht, und echte Pflanzen, welche dieſelbe beſitzen. Eine Seele beſitzen alle Protiſten, ſo gut wie alle Thiere und wie alle Pflanzen. Die Seele ſcheint bei vielen Protiſten ſehr zarter Empfindungen faͤhig zu ſein; wenigſtens ſind die- ſelben oft hoͤchſt reizbar. Dagegen ſcheint der Wille bei den Meiſten ſehr ſchwach entwickelt zu ſein, und ob irgend ein Protiſt ſelbſtſtaͤndiges Denkvermoͤgen beſitzt, iſt ſehr zweifelhaft. Allein das Denkvermoͤgen fehlt in gleichem Grade auch vielen niederen Thieren, waͤhrend viele von den hoͤheren Thieren ebenſo klar und oft folgerichtiger als viele niedere Menſchen denken.
Der wichtigſte phyſiologiſche Charakter des Protiſten- reichs liegt in der ausſchließlich ungeſchlechtlichen Fort- pflanzung aller hierher gehoͤrigen Organismen. Die hoͤheren Thiere und Pflanzen pflanzen ſich faſt ausſchließlich nur auf geſchlecht- lichem Wege fort. Die niederen Thiere und Pflanzen vermehren ſich zwar auch vielfach auf ungeſchlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung, Keimbildung u. ſ. w. Allein daneben findet ſich bei denſelben doch faſt immer noch die geſchlechtliche Fortpflanzung, oft
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Lebenserſcheinungen der Urweſen oder Protiſten.
Linien oder ſelbſt einigen Zollen. Was ihnen aber an Koͤrpergroͤße
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dividuen, und greifen dadurch oft ſehr bedeutend in die Oekonomie
der Natur ein. Die unverweslichen Ueberreſte der geſtorbenen Pro-
tiſten, wie die Kieſelſchalen der Diatomeen und Radiolarien, die Kalk-
ſchalen der Acyttarien, ſetzen oft dicke Gebirgsſchichten zuſammen.
Jn ihren Lebenserſcheinungen, insbeſondere in Bezug auf
Ernaͤhrung und Fortpflanzung, ſchließen ſich die einen Protiſten mehr
den Pflanzen, die anderen mehr den Thieren an. Die Nahrungsauf-
nahme ſowohl als der Stoffwechſel gleicht bald mehr denjenigen der
niederen Thiere, bald mehr denjenigen der niederen Pflanzen. Die
meiſten Protiſten aber zeigen gerade hierin eine merkwuͤrdige Mittel-
ſtellung zwiſchen beiden Reichen. Freie Ortsbewegung kommt
vielen Protiſten zu, waͤhrend ſie anderen fehlt; allein hierin liegt gar
kein entſcheidender Charakter, da wir auch unzweifelhafte Thiere ken-
nen, denen die freie Ortsbewegung ganz abgeht, und echte Pflanzen,
welche dieſelbe beſitzen. Eine Seele beſitzen alle Protiſten, ſo gut
wie alle Thiere und wie alle Pflanzen. Die Seele ſcheint bei vielen
Protiſten ſehr zarter Empfindungen faͤhig zu ſein; wenigſtens ſind die-
ſelben oft hoͤchſt reizbar. Dagegen ſcheint der Wille bei den Meiſten
ſehr ſchwach entwickelt zu ſein, und ob irgend ein Protiſt ſelbſtſtaͤndiges
Denkvermoͤgen beſitzt, iſt ſehr zweifelhaft. Allein das Denkvermoͤgen
fehlt in gleichem Grade auch vielen niederen Thieren, waͤhrend viele
von den hoͤheren Thieren ebenſo klar und oft folgerichtiger als viele
niedere Menſchen denken.
Der wichtigſte phyſiologiſche Charakter des Protiſten-
reichs liegt in der ausſchließlich ungeſchlechtlichen Fort-
pflanzung aller hierher gehoͤrigen Organismen. Die hoͤheren
Thiere und Pflanzen pflanzen ſich faſt ausſchließlich nur auf geſchlecht-
lichem Wege fort. Die niederen Thiere und Pflanzen vermehren ſich
zwar auch vielfach auf ungeſchlechtlichem Wege, durch Theilung,
Knospenbildung, Keimbildung u. ſ. w. Allein daneben findet ſich bei
denſelben doch faſt immer noch die geſchlechtliche Fortpflanzung, oft
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/366>, abgerufen am 26.11.2024.
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