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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Die neutralen Moneren der Gegenwart.
fangen? Wir wissen Nichts von ihrem paläontologischen Ursprung,
wir wissen Nichts von irgend welchen Beziehungen derselben zu niede-
ren Thieren oder Pflanzen, wir wissen Nichts von ihrer möglichen
Entwickelungsfähigkeit zu höheren Organismen. Das structurlose und
homogene Schleimklümpchen, welches ihren ganzen Körper bildet, ist
ebenso die älteste und ursprünglichste Grundlage der thierischen wie
der pflanzlichen Plastiden. Offenbar würde es daher ebenso willkür-
lich und grundlos sein, wenn man sie dem Thierreiche, als wenn man
sie dem Pflanzenreiche anschließen wollte. Jedenfalls verfahren wir
vorläufig am vorsichtigsten und am meisten kritisch, wenn wir die ge-
genwärtig noch lebenden Moneren, deren Zahl und Verbreitung viel-
leicht sehr groß ist, als eine ganz besondere selbstständige Klasse zusam-
menfassen, welche wir allen übrigen Klassen sowohl des Protisten-
reichs, als des Pflanzenreichs und des Thierreichs gegenüber stellen.
Durch die vollkommene Gleichartigkeit ihrer ganzen eiweißartigen Kör-
permasse, durch den völligen Mangel einer Zusammensetzung aus un-
gleichartigen Theilchen schließen sich, rein morphologisch betrachtet, die
Moneren näher an die Anorgane als an die Organismen an, und
vermitteln offenbar den Uebergang zwischen anorganischer und orga-
nischer Körperwelt, wie ihn die Hypothese der Urzeugung annimmt.
Da ich Jhnen die Lebenserscheinungen der jetzt noch lebenden Mone-
ren (Protamoeba, Protogenes, Protomyxa etc.) bereits früher ge-
schildert habe, so verweise ich Sie auf den achten Vortrag (S. 142)
und auf meine Monographie der Moneren, 15) und wiederhole hier
nur als Beispiel die früher gegebene Abbildung der Protamoeba,
eines Moneres, welches das süße Wasser bewohnt (Fig. 12).

Nicht weniger genealogische Schwierigkeiten als die Moneren, bie-
ten uns die Amoeben der Gegenwart, und die ihnen nächstver-
wandten Organismen (Arcelliden und Gregarinen), welche wir
hier als eine zweite Protistenklasse unter dem Namen der Amoe-
boiden
(Protoplasta) zusammenfassen. Man stellt diese Urwesen
jetzt gewöhnlich in das Thierreich, ohne daß man eigentlich einsieht,
warum? Denn einfache nackte Zellen, d. h. hüllenlose und kernfüh-

Die neutralen Moneren der Gegenwart.
fangen? Wir wiſſen Nichts von ihrem palaͤontologiſchen Urſprung,
wir wiſſen Nichts von irgend welchen Beziehungen derſelben zu niede-
ren Thieren oder Pflanzen, wir wiſſen Nichts von ihrer moͤglichen
Entwickelungsfaͤhigkeit zu hoͤheren Organismen. Das ſtructurloſe und
homogene Schleimkluͤmpchen, welches ihren ganzen Koͤrper bildet, iſt
ebenſo die aͤlteſte und urſpruͤnglichſte Grundlage der thieriſchen wie
der pflanzlichen Plaſtiden. Offenbar wuͤrde es daher ebenſo willkuͤr-
lich und grundlos ſein, wenn man ſie dem Thierreiche, als wenn man
ſie dem Pflanzenreiche anſchließen wollte. Jedenfalls verfahren wir
vorlaͤufig am vorſichtigſten und am meiſten kritiſch, wenn wir die ge-
genwaͤrtig noch lebenden Moneren, deren Zahl und Verbreitung viel-
leicht ſehr groß iſt, als eine ganz beſondere ſelbſtſtaͤndige Klaſſe zuſam-
menfaſſen, welche wir allen uͤbrigen Klaſſen ſowohl des Protiſten-
reichs, als des Pflanzenreichs und des Thierreichs gegenuͤber ſtellen.
Durch die vollkommene Gleichartigkeit ihrer ganzen eiweißartigen Koͤr-
permaſſe, durch den voͤlligen Mangel einer Zuſammenſetzung aus un-
gleichartigen Theilchen ſchließen ſich, rein morphologiſch betrachtet, die
Moneren naͤher an die Anorgane als an die Organismen an, und
vermitteln offenbar den Uebergang zwiſchen anorganiſcher und orga-
niſcher Koͤrperwelt, wie ihn die Hypotheſe der Urzeugung annimmt.
Da ich Jhnen die Lebenserſcheinungen der jetzt noch lebenden Mone-
ren (Protamoeba, Protogenes, Protomyxa etc.) bereits fruͤher ge-
ſchildert habe, ſo verweiſe ich Sie auf den achten Vortrag (S. 142)
und auf meine Monographie der Moneren, 15) und wiederhole hier
nur als Beiſpiel die fruͤher gegebene Abbildung der Protamoeba,
eines Moneres, welches das ſuͤße Waſſer bewohnt (Fig. 12).

Nicht weniger genealogiſche Schwierigkeiten als die Moneren, bie-
ten uns die Amoeben der Gegenwart, und die ihnen naͤchſtver-
wandten Organismen (Arcelliden und Gregarinen), welche wir
hier als eine zweite Protiſtenklaſſe unter dem Namen der Amoe-
boiden
(Protoplasta) zuſammenfaſſen. Man ſtellt dieſe Urweſen
jetzt gewoͤhnlich in das Thierreich, ohne daß man eigentlich einſieht,
warum? Denn einfache nackte Zellen, d. h. huͤllenloſe und kernfuͤh-

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[329/0354] Die neutralen Moneren der Gegenwart. fangen? Wir wiſſen Nichts von ihrem palaͤontologiſchen Urſprung, wir wiſſen Nichts von irgend welchen Beziehungen derſelben zu niede- ren Thieren oder Pflanzen, wir wiſſen Nichts von ihrer moͤglichen Entwickelungsfaͤhigkeit zu hoͤheren Organismen. Das ſtructurloſe und homogene Schleimkluͤmpchen, welches ihren ganzen Koͤrper bildet, iſt ebenſo die aͤlteſte und urſpruͤnglichſte Grundlage der thieriſchen wie der pflanzlichen Plaſtiden. Offenbar wuͤrde es daher ebenſo willkuͤr- lich und grundlos ſein, wenn man ſie dem Thierreiche, als wenn man ſie dem Pflanzenreiche anſchließen wollte. Jedenfalls verfahren wir vorlaͤufig am vorſichtigſten und am meiſten kritiſch, wenn wir die ge- genwaͤrtig noch lebenden Moneren, deren Zahl und Verbreitung viel- leicht ſehr groß iſt, als eine ganz beſondere ſelbſtſtaͤndige Klaſſe zuſam- menfaſſen, welche wir allen uͤbrigen Klaſſen ſowohl des Protiſten- reichs, als des Pflanzenreichs und des Thierreichs gegenuͤber ſtellen. Durch die vollkommene Gleichartigkeit ihrer ganzen eiweißartigen Koͤr- permaſſe, durch den voͤlligen Mangel einer Zuſammenſetzung aus un- gleichartigen Theilchen ſchließen ſich, rein morphologiſch betrachtet, die Moneren naͤher an die Anorgane als an die Organismen an, und vermitteln offenbar den Uebergang zwiſchen anorganiſcher und orga- niſcher Koͤrperwelt, wie ihn die Hypotheſe der Urzeugung annimmt. Da ich Jhnen die Lebenserſcheinungen der jetzt noch lebenden Mone- ren (Protamoeba, Protogenes, Protomyxa etc.) bereits fruͤher ge- ſchildert habe, ſo verweiſe ich Sie auf den achten Vortrag (S. 142) und auf meine Monographie der Moneren, 15) und wiederhole hier nur als Beiſpiel die fruͤher gegebene Abbildung der Protamoeba, eines Moneres, welches das ſuͤße Waſſer bewohnt (Fig. 12). Nicht weniger genealogiſche Schwierigkeiten als die Moneren, bie- ten uns die Amoeben der Gegenwart, und die ihnen naͤchſtver- wandten Organismen (Arcelliden und Gregarinen), welche wir hier als eine zweite Protiſtenklaſſe unter dem Namen der Amoe- boiden (Protoplasta) zuſammenfaſſen. Man ſtellt dieſe Urweſen jetzt gewoͤhnlich in das Thierreich, ohne daß man eigentlich einſieht, warum? Denn einfache nackte Zellen, d. h. huͤllenloſe und kernfuͤh-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/354>, abgerufen am 27.11.2024.