Abstammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen.
Theile. Diese waren daher der Erhaltung im versteinerten Zustande, durchaus nicht fähig. Ebenso fehlt uns aber aus den im letzten Vor- trage ausführlich erörterten Gründen der bei weitem größte Theil von den zahllosen paläontologischen Dokumenten, die zur Durchführung der Stammesgeschichte oder Phylogenie, und zur wahren Erkenntniß der organischen Stammbäume eigentlich erforderlich wären. Wenn wir daher das Wagniß ihrer hypothetischen Construction dennoch un- ternehmen, so sind wir vor Allem auf die Unterstützung der beiden an- deren Urkundenreihen hingewiesen, welche das paläontologische Archiv in wesentlicher Weise ergänzen, der Ontogenie und der vergleichen- den Anatomie.
Ziehen wir diese höchst werthvollen Urkunden gehörig denkend und vergleichend zu Rathe, so machen wir zunächst die außerordentlich bedeutungsvolle Wahrnehmung, daß die allermeisten Organismen, insbesondere alle höheren Thiere und Pflanzen, aus einer Vielzahl von Zellen zusammengesetzt sind, ihren Ursprung aber aus einem Ei neh- men, und daß dieses Ei bei den Thieren ebenso wie bei den Pflanzen eine einzige ganz einfache Zelle ist: ein Klümpchen einer Eiweißver- bindung, in welchem ein anderer eiweißartiger Körper, der Zellkern, eingeschlossen ist. Diese kernhaltige Zelle wächst und vergrößert sich. Durch Theilung bildet sie ein Zellenhäufchen, und aus diesem entstehen durch Arbeitstheilung in der früher beschriebenen Weise die vielfach verschiedenen Formen, welche die ausgebildeten Thier- und Pflanzen- arten uns vor Augen führen. Dieser unendlich wichtige Vorgang, welchen wir alltäglich bei der embryologischen Entwickelung jedes thie- rischen und pflanzlichen Jndividuums mit unseren Augen Schritt für Schritt unmittelbar verfolgen können, und welchen wir in der Regel durchaus nicht mit der verdienten Ehrfurcht betrachten, belehrt uns siche- rer und vollständiger, als alle Versteinerungen es thun könnten, über die ursprüngliche paläontologische Entwickelung aller mehrzelligen Or- ganismen, aller höheren Thiere und Pflanzen. Denn da die Ontogenie oder die embryologische Entwickelung jedes einzelnen Jndividuums Nichts weiter ist als eine Recapitulation der Phylogenie oder der paläontologi-
Abſtammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen.
Theile. Dieſe waren daher der Erhaltung im verſteinerten Zuſtande, durchaus nicht faͤhig. Ebenſo fehlt uns aber aus den im letzten Vor- trage ausfuͤhrlich eroͤrterten Gruͤnden der bei weitem groͤßte Theil von den zahlloſen palaͤontologiſchen Dokumenten, die zur Durchfuͤhrung der Stammesgeſchichte oder Phylogenie, und zur wahren Erkenntniß der organiſchen Stammbaͤume eigentlich erforderlich waͤren. Wenn wir daher das Wagniß ihrer hypothetiſchen Conſtruction dennoch un- ternehmen, ſo ſind wir vor Allem auf die Unterſtuͤtzung der beiden an- deren Urkundenreihen hingewieſen, welche das palaͤontologiſche Archiv in weſentlicher Weiſe ergaͤnzen, der Ontogenie und der vergleichen- den Anatomie.
Ziehen wir dieſe hoͤchſt werthvollen Urkunden gehoͤrig denkend und vergleichend zu Rathe, ſo machen wir zunaͤchſt die außerordentlich bedeutungsvolle Wahrnehmung, daß die allermeiſten Organismen, insbeſondere alle hoͤheren Thiere und Pflanzen, aus einer Vielzahl von Zellen zuſammengeſetzt ſind, ihren Urſprung aber aus einem Ei neh- men, und daß dieſes Ei bei den Thieren ebenſo wie bei den Pflanzen eine einzige ganz einfache Zelle iſt: ein Kluͤmpchen einer Eiweißver- bindung, in welchem ein anderer eiweißartiger Koͤrper, der Zellkern, eingeſchloſſen iſt. Dieſe kernhaltige Zelle waͤchſt und vergroͤßert ſich. Durch Theilung bildet ſie ein Zellenhaͤufchen, und aus dieſem entſtehen durch Arbeitstheilung in der fruͤher beſchriebenen Weiſe die vielfach verſchiedenen Formen, welche die ausgebildeten Thier- und Pflanzen- arten uns vor Augen fuͤhren. Dieſer unendlich wichtige Vorgang, welchen wir alltaͤglich bei der embryologiſchen Entwickelung jedes thie- riſchen und pflanzlichen Jndividuums mit unſeren Augen Schritt fuͤr Schritt unmittelbar verfolgen koͤnnen, und welchen wir in der Regel durchaus nicht mit der verdienten Ehrfurcht betrachten, belehrt uns ſiche- rer und vollſtaͤndiger, als alle Verſteinerungen es thun koͤnnten, uͤber die urſpruͤngliche palaͤontologiſche Entwickelung aller mehrzelligen Or- ganismen, aller hoͤheren Thiere und Pflanzen. Denn da die Ontogenie oder die embryologiſche Entwickelung jedes einzelnen Jndividuums Nichts weiter iſt als eine Recapitulation der Phylogenie oder der palaͤontologi-
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Abſtammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen.
Theile. Dieſe waren daher der Erhaltung im verſteinerten Zuſtande,
durchaus nicht faͤhig. Ebenſo fehlt uns aber aus den im letzten Vor-
trage ausfuͤhrlich eroͤrterten Gruͤnden der bei weitem groͤßte Theil von
den zahlloſen palaͤontologiſchen Dokumenten, die zur Durchfuͤhrung
der Stammesgeſchichte oder Phylogenie, und zur wahren Erkenntniß
der organiſchen Stammbaͤume eigentlich erforderlich waͤren. Wenn
wir daher das Wagniß ihrer hypothetiſchen Conſtruction dennoch un-
ternehmen, ſo ſind wir vor Allem auf die Unterſtuͤtzung der beiden an-
deren Urkundenreihen hingewieſen, welche das palaͤontologiſche Archiv
in weſentlicher Weiſe ergaͤnzen, der Ontogenie und der vergleichen-
den Anatomie.
Ziehen wir dieſe hoͤchſt werthvollen Urkunden gehoͤrig denkend
und vergleichend zu Rathe, ſo machen wir zunaͤchſt die außerordentlich
bedeutungsvolle Wahrnehmung, daß die allermeiſten Organismen,
insbeſondere alle hoͤheren Thiere und Pflanzen, aus einer Vielzahl von
Zellen zuſammengeſetzt ſind, ihren Urſprung aber aus einem Ei neh-
men, und daß dieſes Ei bei den Thieren ebenſo wie bei den Pflanzen
eine einzige ganz einfache Zelle iſt: ein Kluͤmpchen einer Eiweißver-
bindung, in welchem ein anderer eiweißartiger Koͤrper, der Zellkern,
eingeſchloſſen iſt. Dieſe kernhaltige Zelle waͤchſt und vergroͤßert ſich.
Durch Theilung bildet ſie ein Zellenhaͤufchen, und aus dieſem entſtehen
durch Arbeitstheilung in der fruͤher beſchriebenen Weiſe die vielfach
verſchiedenen Formen, welche die ausgebildeten Thier- und Pflanzen-
arten uns vor Augen fuͤhren. Dieſer unendlich wichtige Vorgang,
welchen wir alltaͤglich bei der embryologiſchen Entwickelung jedes thie-
riſchen und pflanzlichen Jndividuums mit unſeren Augen Schritt fuͤr
Schritt unmittelbar verfolgen koͤnnen, und welchen wir in der Regel
durchaus nicht mit der verdienten Ehrfurcht betrachten, belehrt uns ſiche-
rer und vollſtaͤndiger, als alle Verſteinerungen es thun koͤnnten, uͤber
die urſpruͤngliche palaͤontologiſche Entwickelung aller mehrzelligen Or-
ganismen, aller hoͤheren Thiere und Pflanzen. Denn da die Ontogenie
oder die embryologiſche Entwickelung jedes einzelnen Jndividuums Nichts
weiter iſt als eine Recapitulation der Phylogenie oder der palaͤontologi-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/344>, abgerufen am 28.11.2024.
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