eines Lächelns über die seltsamen Vorstellungen, zu denen sie geführt wurden, erwehren. Außer Stande, eine wirkliche Erklärung zu finden, kam man z. B. zu dem Endresultate, daß der Schöpfer "der Sym- metrie wegen" diese Organe angelegt habe; oder man nahm an, es sei dem Schöpfer unpassend oder unverständig erschienen, daß diese Organe bei denjenigen Organismen, bei denen sie nicht leistungsfähig sind, und ihrer ganzen Lebensweise nach nicht sein können, völlig fehlten, während die nächsten Verwandten sie besäßen, und zum Ersatz für die mangelnde Funktion habe er ihnen wenigstens die äußere Aus- stattung der leeren Form verliehen; ungefähr so, wie die uniformir- ten Civilbeamten bei Hofe mit einem unschuldigen Degen ausgestattet sind, den sie niemals aus der Scheide ziehen. Jch glaube aber kaum, daß Sie von einer solchen Erklärung befriedigt sein werden.
Nun wird gerade diese allgemein verbreitete und räthselhafte Er- scheinung der rudimentären Organe, an welcher alle übrigen Erklä- rungsversuche scheitern, vollkommen erklärt, und zwar in der einfach- sten und einleuchtendsten Weise erklärt durch Darwins Theorie von der Vererbung und von der Anpassung. Wir können die wich- tigen Gesetze der Vererbung und Anpassung an den Hausthieren und Kulturpflanzen, welche wir künstlich züchten, verfolgen, und es ist be- reits eine Reihe solcher Vererbungsgesetze festgestellt worden. Ohne jetzt auf diese einzugehen, will ich nur vorausschicken, daß einige da- von auf mechanischem Wege die Entstehung der rudimentären Organe vollkommen erklären, so daß wir das Auftreten derselben als einen ganz natürlichen Prozeß ansehen müssen, bedingt durch den Nichtgebrauch der Organe. Durch Anpassung an besondere Lebensbedingun- gen sind die früher thätigen und wirklich arbeitenden Organe allmählich nicht mehr gebraucht worden und außer Dienst getreten. Jn Folge der mangelnden Uebung sind sie mehr und mehr schwächer geworden, trotz- dem aber immer noch durch Vererbung von einer Generation auf die andere übertragen worden, bis sie endlich größtentheils oder ganz verschwanden. Wenn wir annehmen, daß alle oben angeführten Wir- belthiere von einem einzigen gemeinsamen Stammvater abstammen,
Verkuͤmmerung der Organe durch Nichtgebrauch.
eines Laͤchelns uͤber die ſeltſamen Vorſtellungen, zu denen ſie gefuͤhrt wurden, erwehren. Außer Stande, eine wirkliche Erklaͤrung zu finden, kam man z. B. zu dem Endreſultate, daß der Schoͤpfer „der Sym- metrie wegen“ dieſe Organe angelegt habe; oder man nahm an, es ſei dem Schoͤpfer unpaſſend oder unverſtaͤndig erſchienen, daß dieſe Organe bei denjenigen Organismen, bei denen ſie nicht leiſtungsfaͤhig ſind, und ihrer ganzen Lebensweiſe nach nicht ſein koͤnnen, voͤllig fehlten, waͤhrend die naͤchſten Verwandten ſie beſaͤßen, und zum Erſatz fuͤr die mangelnde Funktion habe er ihnen wenigſtens die aͤußere Aus- ſtattung der leeren Form verliehen; ungefaͤhr ſo, wie die uniformir- ten Civilbeamten bei Hofe mit einem unſchuldigen Degen ausgeſtattet ſind, den ſie niemals aus der Scheide ziehen. Jch glaube aber kaum, daß Sie von einer ſolchen Erklaͤrung befriedigt ſein werden.
Nun wird gerade dieſe allgemein verbreitete und raͤthſelhafte Er- ſcheinung der rudimentaͤren Organe, an welcher alle uͤbrigen Erklaͤ- rungsverſuche ſcheitern, vollkommen erklaͤrt, und zwar in der einfach- ſten und einleuchtendſten Weiſe erklaͤrt durch Darwins Theorie von der Vererbung und von der Anpaſſung. Wir koͤnnen die wich- tigen Geſetze der Vererbung und Anpaſſung an den Hausthieren und Kulturpflanzen, welche wir kuͤnſtlich zuͤchten, verfolgen, und es iſt be- reits eine Reihe ſolcher Vererbungsgeſetze feſtgeſtellt worden. Ohne jetzt auf dieſe einzugehen, will ich nur vorausſchicken, daß einige da- von auf mechaniſchem Wege die Entſtehung der rudimentaͤren Organe vollkommen erklaͤren, ſo daß wir das Auftreten derſelben als einen ganz natuͤrlichen Prozeß anſehen muͤſſen, bedingt durch den Nichtgebrauch der Organe. Durch Anpaſſung an beſondere Lebensbedingun- gen ſind die fruͤher thaͤtigen und wirklich arbeitenden Organe allmaͤhlich nicht mehr gebraucht worden und außer Dienſt getreten. Jn Folge der mangelnden Uebung ſind ſie mehr und mehr ſchwaͤcher geworden, trotz- dem aber immer noch durch Vererbung von einer Generation auf die andere uͤbertragen worden, bis ſie endlich groͤßtentheils oder ganz verſchwanden. Wenn wir annehmen, daß alle oben angefuͤhrten Wir- belthiere von einem einzigen gemeinſamen Stammvater abſtammen,
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Verkuͤmmerung der Organe durch Nichtgebrauch.
eines Laͤchelns uͤber die ſeltſamen Vorſtellungen, zu denen ſie gefuͤhrt
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kam man z. B. zu dem Endreſultate, daß der Schoͤpfer „der Sym-
metrie wegen“ dieſe Organe angelegt habe; oder man nahm an, es
ſei dem Schoͤpfer unpaſſend oder unverſtaͤndig erſchienen, daß dieſe
Organe bei denjenigen Organismen, bei denen ſie nicht leiſtungsfaͤhig
ſind, und ihrer ganzen Lebensweiſe nach nicht ſein koͤnnen, voͤllig
fehlten, waͤhrend die naͤchſten Verwandten ſie beſaͤßen, und zum Erſatz
fuͤr die mangelnde Funktion habe er ihnen wenigſtens die aͤußere Aus-
ſtattung der leeren Form verliehen; ungefaͤhr ſo, wie die uniformir-
ten Civilbeamten bei Hofe mit einem unſchuldigen Degen ausgeſtattet
ſind, den ſie niemals aus der Scheide ziehen. Jch glaube aber kaum,
daß Sie von einer ſolchen Erklaͤrung befriedigt ſein werden.
Nun wird gerade dieſe allgemein verbreitete und raͤthſelhafte Er-
ſcheinung der rudimentaͤren Organe, an welcher alle uͤbrigen Erklaͤ-
rungsverſuche ſcheitern, vollkommen erklaͤrt, und zwar in der einfach-
ſten und einleuchtendſten Weiſe erklaͤrt durch Darwins Theorie von
der Vererbung und von der Anpaſſung. Wir koͤnnen die wich-
tigen Geſetze der Vererbung und Anpaſſung an den Hausthieren und
Kulturpflanzen, welche wir kuͤnſtlich zuͤchten, verfolgen, und es iſt be-
reits eine Reihe ſolcher Vererbungsgeſetze feſtgeſtellt worden. Ohne
jetzt auf dieſe einzugehen, will ich nur vorausſchicken, daß einige da-
von auf mechaniſchem Wege die Entſtehung der rudimentaͤren Organe
vollkommen erklaͤren, ſo daß wir das Auftreten derſelben als einen ganz
natuͤrlichen Prozeß anſehen muͤſſen, bedingt durch den Nichtgebrauch
der Organe. Durch Anpaſſung an beſondere Lebensbedingun-
gen ſind die fruͤher thaͤtigen und wirklich arbeitenden Organe allmaͤhlich
nicht mehr gebraucht worden und außer Dienſt getreten. Jn Folge der
mangelnden Uebung ſind ſie mehr und mehr ſchwaͤcher geworden, trotz-
dem aber immer noch durch Vererbung von einer Generation auf
die andere uͤbertragen worden, bis ſie endlich groͤßtentheils oder ganz
verſchwanden. Wenn wir annehmen, daß alle oben angefuͤhrten Wir-
belthiere von einem einzigen gemeinſamen Stammvater abſtammen,
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/34>, abgerufen am 23.07.2024.
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