ausführen zu können. Das Jnstrument ist noch da, aber es kann nicht mehr spielen.
Fast ganz allgemein finden Sie ferner rudimentäre Organe in den Pflanzenblüthen vor, indem der eine oder der andere Theil der männli- chen Fortpflanzungsorgane (der Staubfäden und Staubbeutel), oder der weiblichen Fortpflanzungsorgane (Griffel, Fruchtknoten u. s. w.) mehr oder weniger verkümmert oder "fehlgeschlagen" (abortirt) ist. Auch hier können Sie bei verschiedenen, nahe verwandten Pflanzenarten das Organ in allen Graden der Rückbildung verfolgen. So z. B. ist die große natürliche Familie der lippenblüthigen Pflanzen (Labiaten), zu welcher Melisse, Pfefferminze, Majoran, Gundelrebe, Thymian u. s. w. gehören, dadurch ausgezeichnet, daß die rachenförmige, zweilippige Blu- menkrone zwei lange und zwei kurze Staubfäden enthält. Allein bei vielen einzelnen Pflanzen dieser Familie, z. B. bei verschiedenen Salbei- arten und beim Rosmarin, ist nur das eine Paar der Staubfäden aus- gebildet, und das andere Paar ist mehr oder weniger verkümmert, oft ganz verschwunden. Bisweilen sind die Staubfäden vorhanden, aber ohne Staubbeutel, so daß sie ganz unnütz sind. Seltener aber findet sich sogar noch das Rudiment oder der verkümmerte Rest eines fünften Staubfadens, ein physiologisch (für die Lebensverrichtung) ganz nutz- loses, aber morphologisch (für die Erkenntniß der Form und der na- türlichen Verwandtschaft) äußerst werthvolles Organ. Jn meiner ge- nerellen Morphologie der Organismen 4) habe ich in dem Abschnitt von der "Unzweckmäßigkeitslehre oder Dysteleologie" noch eine große Anzahl von anderen derartigen Beispielen angeführt (Gen. Morph. II., 266).
Keine biologische Erscheinung hat wohl jemals die Zoologen und Botaniker in größere Verlegenheit versetzt als diese rudimentären, oder abortiven (verkümmerten) Organe. Es sind Werkzeuge außer Dienst, Körpertheile, welche da sind, ohne etwas zu leisten, zweckmä- ßig eingerichtet, ohne ihren Zweck in Wirklichkeit zu erfüllen. Wenn man die Versuche betrachtet, welche die früheren Naturforscher zur Erklärung dieses Räthsels machten, kann man sich in der That kaum
Rudimentaͤre oder unzweckmaͤßige Organe.
ausfuͤhren zu koͤnnen. Das Jnſtrument iſt noch da, aber es kann nicht mehr ſpielen.
Faſt ganz allgemein finden Sie ferner rudimentaͤre Organe in den Pflanzenbluͤthen vor, indem der eine oder der andere Theil der maͤnnli- chen Fortpflanzungsorgane (der Staubfaͤden und Staubbeutel), oder der weiblichen Fortpflanzungsorgane (Griffel, Fruchtknoten u. ſ. w.) mehr oder weniger verkuͤmmert oder „fehlgeſchlagen“ (abortirt) iſt. Auch hier koͤnnen Sie bei verſchiedenen, nahe verwandten Pflanzenarten das Organ in allen Graden der Ruͤckbildung verfolgen. So z. B. iſt die große natuͤrliche Familie der lippenbluͤthigen Pflanzen (Labiaten), zu welcher Meliſſe, Pfefferminze, Majoran, Gundelrebe, Thymian u. ſ. w. gehoͤren, dadurch ausgezeichnet, daß die rachenfoͤrmige, zweilippige Blu- menkrone zwei lange und zwei kurze Staubfaͤden enthaͤlt. Allein bei vielen einzelnen Pflanzen dieſer Familie, z. B. bei verſchiedenen Salbei- arten und beim Rosmarin, iſt nur das eine Paar der Staubfaͤden aus- gebildet, und das andere Paar iſt mehr oder weniger verkuͤmmert, oft ganz verſchwunden. Bisweilen ſind die Staubfaͤden vorhanden, aber ohne Staubbeutel, ſo daß ſie ganz unnuͤtz ſind. Seltener aber findet ſich ſogar noch das Rudiment oder der verkuͤmmerte Reſt eines fuͤnften Staubfadens, ein phyſiologiſch (fuͤr die Lebensverrichtung) ganz nutz- loſes, aber morphologiſch (fuͤr die Erkenntniß der Form und der na- tuͤrlichen Verwandtſchaft) aͤußerſt werthvolles Organ. Jn meiner ge- nerellen Morphologie der Organismen 4) habe ich in dem Abſchnitt von der „Unzweckmaͤßigkeitslehre oder Dyſteleologie“ noch eine große Anzahl von anderen derartigen Beiſpielen angefuͤhrt (Gen. Morph. II., 266).
Keine biologiſche Erſcheinung hat wohl jemals die Zoologen und Botaniker in groͤßere Verlegenheit verſetzt als dieſe rudimentaͤren, oder abortiven (verkuͤmmerten) Organe. Es ſind Werkzeuge außer Dienſt, Koͤrpertheile, welche da ſind, ohne etwas zu leiſten, zweckmaͤ- ßig eingerichtet, ohne ihren Zweck in Wirklichkeit zu erfuͤllen. Wenn man die Verſuche betrachtet, welche die fruͤheren Naturforſcher zur Erklaͤrung dieſes Raͤthſels machten, kann man ſich in der That kaum
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[12/0033]
Rudimentaͤre oder unzweckmaͤßige Organe.
ausfuͤhren zu koͤnnen. Das Jnſtrument iſt noch da, aber es kann
nicht mehr ſpielen.
Faſt ganz allgemein finden Sie ferner rudimentaͤre Organe in den
Pflanzenbluͤthen vor, indem der eine oder der andere Theil der maͤnnli-
chen Fortpflanzungsorgane (der Staubfaͤden und Staubbeutel), oder
der weiblichen Fortpflanzungsorgane (Griffel, Fruchtknoten u. ſ. w.)
mehr oder weniger verkuͤmmert oder „fehlgeſchlagen“ (abortirt) iſt. Auch
hier koͤnnen Sie bei verſchiedenen, nahe verwandten Pflanzenarten das
Organ in allen Graden der Ruͤckbildung verfolgen. So z. B. iſt die
große natuͤrliche Familie der lippenbluͤthigen Pflanzen (Labiaten), zu
welcher Meliſſe, Pfefferminze, Majoran, Gundelrebe, Thymian u. ſ. w.
gehoͤren, dadurch ausgezeichnet, daß die rachenfoͤrmige, zweilippige Blu-
menkrone zwei lange und zwei kurze Staubfaͤden enthaͤlt. Allein bei
vielen einzelnen Pflanzen dieſer Familie, z. B. bei verſchiedenen Salbei-
arten und beim Rosmarin, iſt nur das eine Paar der Staubfaͤden aus-
gebildet, und das andere Paar iſt mehr oder weniger verkuͤmmert, oft
ganz verſchwunden. Bisweilen ſind die Staubfaͤden vorhanden, aber
ohne Staubbeutel, ſo daß ſie ganz unnuͤtz ſind. Seltener aber findet
ſich ſogar noch das Rudiment oder der verkuͤmmerte Reſt eines fuͤnften
Staubfadens, ein phyſiologiſch (fuͤr die Lebensverrichtung) ganz nutz-
loſes, aber morphologiſch (fuͤr die Erkenntniß der Form und der na-
tuͤrlichen Verwandtſchaft) aͤußerſt werthvolles Organ. Jn meiner ge-
nerellen Morphologie der Organismen 4) habe ich in dem Abſchnitt
von der „Unzweckmaͤßigkeitslehre oder Dyſteleologie“ noch eine große
Anzahl von anderen derartigen Beiſpielen angefuͤhrt (Gen. Morph.
II., 266).
Keine biologiſche Erſcheinung hat wohl jemals die Zoologen und
Botaniker in groͤßere Verlegenheit verſetzt als dieſe rudimentaͤren,
oder abortiven (verkuͤmmerten) Organe. Es ſind Werkzeuge außer
Dienſt, Koͤrpertheile, welche da ſind, ohne etwas zu leiſten, zweckmaͤ-
ßig eingerichtet, ohne ihren Zweck in Wirklichkeit zu erfuͤllen. Wenn
man die Verſuche betrachtet, welche die fruͤheren Naturforſcher zur
Erklaͤrung dieſes Raͤthſels machten, kann man ſich in der That kaum
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/33>, abgerufen am 24.11.2024.
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