Der biologische Charakter der Quartärzeit liegt wesentlich in der Entwickelung und Ausbreitung des menschlichen Organismus und seiner Cultur. Weit mehr als jeder andere Organismus hat der Mensch umgestaltend, zerstörend und neubildend auf die Thier- und Pflanzenbevölkerung der Erde eingewirkt. Aus diesem Grunde, -- nicht weil wir dem Menschen im Uebrigen eine privilegirte Aus- nahmestellung in der Natur einräumen -- können wir mit vollem Rechte die Ausbreitung des Menschen mit seiner Cultur als Beginn eines besonderen letzten Hauptabschnitts der organischen Erdgeschichte bezeichnen. Wahrscheinlich fand allerdings die körperliche Entwickelung des Urmenschen aus menschenähnlichen Affen bereits in der jüngeren oder pliocenen, vielleicht sogar schon in der mittleren oder miocenen Tertiärzeit statt. Allein die eigentliche Entwickelung der menschli- chen Sprache, welche wir als den wichtigsten Hebel für die Ausbil- dung der eigenthümlichen Vorzüge des Menschen und seiner Herrschaft über die übrigen Organismen betrachten, fällt wahrscheinlich erst in jenen Zeitraum, welchen man aus geologischen Gründen als pleisto- cene oder diluviale Zeit von der vorhergehenden Pliocenperiode trennt. Jedenfalls ist derjenige Zeitraum, welcher seit der Entwickelung der menschlichen Sprache bis zur Gegenwart verfloß, mag derselbe auch viele Jahrtausende und vielleicht Hunderttausende von Jahren in An- spruch genommen haben, verschwindend gering gegen die unermeß- liche Länge der Zeiträume, welche vom Beginn des organischen Lebens auf der Erde bis zur Entstehung des Menschengeschlechts verflossen.
Man hat viele Versuche angestellt, die Zahl der Jahrtausende, welche diese Zeiträume zusammensetzen, annähernd zu berechnen. Man verglich die Dicke der Schlammschichten, welche erfahrungsge- mäß während eines Jahrhunderts sich absetzen, und welche nur we- nige Linien oder Zolle beträgt, mit der gesammten Dicke der geschich- teten Gesteinsmassen, deren ideales System wir soeben überblickt ha- ben. Diese Dicke mag im Ganzen durchschnittlich ungefähr 130,000 Fuß betragen, und hiervon kommen 70,000 auf das primordiale oder archolithische, 42,000 auf das primäre oder paläolithische, 15,000 auf
Unmeßbare Laͤnge der organiſchen Erdgeſchichte.
Der biologiſche Charakter der Quartaͤrzeit liegt weſentlich in der Entwickelung und Ausbreitung des menſchlichen Organismus und ſeiner Cultur. Weit mehr als jeder andere Organismus hat der Menſch umgeſtaltend, zerſtoͤrend und neubildend auf die Thier- und Pflanzenbevoͤlkerung der Erde eingewirkt. Aus dieſem Grunde, — nicht weil wir dem Menſchen im Uebrigen eine privilegirte Aus- nahmeſtellung in der Natur einraͤumen — koͤnnen wir mit vollem Rechte die Ausbreitung des Menſchen mit ſeiner Cultur als Beginn eines beſonderen letzten Hauptabſchnitts der organiſchen Erdgeſchichte bezeichnen. Wahrſcheinlich fand allerdings die koͤrperliche Entwickelung des Urmenſchen aus menſchenaͤhnlichen Affen bereits in der juͤngeren oder pliocenen, vielleicht ſogar ſchon in der mittleren oder miocenen Tertiaͤrzeit ſtatt. Allein die eigentliche Entwickelung der menſchli- chen Sprache, welche wir als den wichtigſten Hebel fuͤr die Ausbil- dung der eigenthuͤmlichen Vorzuͤge des Menſchen und ſeiner Herrſchaft uͤber die uͤbrigen Organismen betrachten, faͤllt wahrſcheinlich erſt in jenen Zeitraum, welchen man aus geologiſchen Gruͤnden als pleiſto- cene oder diluviale Zeit von der vorhergehenden Pliocenperiode trennt. Jedenfalls iſt derjenige Zeitraum, welcher ſeit der Entwickelung der menſchlichen Sprache bis zur Gegenwart verfloß, mag derſelbe auch viele Jahrtauſende und vielleicht Hunderttauſende von Jahren in An- ſpruch genommen haben, verſchwindend gering gegen die unermeß- liche Laͤnge der Zeitraͤume, welche vom Beginn des organiſchen Lebens auf der Erde bis zur Entſtehung des Menſchengeſchlechts verfloſſen.
Man hat viele Verſuche angeſtellt, die Zahl der Jahrtauſende, welche dieſe Zeitraͤume zuſammenſetzen, annaͤhernd zu berechnen. Man verglich die Dicke der Schlammſchichten, welche erfahrungsge- maͤß waͤhrend eines Jahrhunderts ſich abſetzen, und welche nur we- nige Linien oder Zolle betraͤgt, mit der geſammten Dicke der geſchich- teten Geſteinsmaſſen, deren ideales Syſtem wir ſoeben uͤberblickt ha- ben. Dieſe Dicke mag im Ganzen durchſchnittlich ungefaͤhr 130,000 Fuß betragen, und hiervon kommen 70,000 auf das primordiale oder archolithiſche, 42,000 auf das primaͤre oder palaͤolithiſche, 15,000 auf
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0326"n="301"/><fwplace="top"type="header">Unmeßbare Laͤnge der organiſchen Erdgeſchichte.</fw><lb/><p>Der biologiſche Charakter der Quartaͤrzeit liegt weſentlich in der<lb/>
Entwickelung und Ausbreitung des menſchlichen Organismus und<lb/>ſeiner Cultur. Weit mehr als jeder andere Organismus hat der<lb/>
Menſch umgeſtaltend, zerſtoͤrend und neubildend auf die Thier- und<lb/>
Pflanzenbevoͤlkerung der Erde eingewirkt. Aus dieſem Grunde, —<lb/>
nicht weil wir dem Menſchen im Uebrigen eine privilegirte Aus-<lb/>
nahmeſtellung in der Natur einraͤumen — koͤnnen wir mit vollem<lb/>
Rechte die Ausbreitung des Menſchen mit ſeiner Cultur als Beginn<lb/>
eines beſonderen letzten Hauptabſchnitts der organiſchen Erdgeſchichte<lb/>
bezeichnen. Wahrſcheinlich fand allerdings die koͤrperliche Entwickelung<lb/>
des Urmenſchen aus menſchenaͤhnlichen Affen bereits in der juͤngeren<lb/>
oder pliocenen, vielleicht ſogar ſchon in der mittleren oder miocenen<lb/>
Tertiaͤrzeit ſtatt. Allein die eigentliche Entwickelung der <hirendition="#g">menſchli-<lb/>
chen Sprache,</hi> welche wir als den wichtigſten Hebel fuͤr die Ausbil-<lb/>
dung der eigenthuͤmlichen Vorzuͤge des Menſchen und ſeiner Herrſchaft<lb/>
uͤber die uͤbrigen Organismen betrachten, faͤllt wahrſcheinlich erſt in<lb/>
jenen Zeitraum, welchen man aus geologiſchen Gruͤnden als pleiſto-<lb/>
cene oder diluviale Zeit von der vorhergehenden Pliocenperiode trennt.<lb/>
Jedenfalls iſt derjenige Zeitraum, welcher ſeit der Entwickelung der<lb/>
menſchlichen Sprache bis zur Gegenwart verfloß, mag derſelbe auch<lb/>
viele Jahrtauſende und vielleicht Hunderttauſende von Jahren in An-<lb/>ſpruch genommen haben, verſchwindend gering gegen die unermeß-<lb/>
liche Laͤnge der Zeitraͤume, welche vom Beginn des organiſchen Lebens<lb/>
auf der Erde bis zur Entſtehung des Menſchengeſchlechts verfloſſen.</p><lb/><p>Man hat viele Verſuche angeſtellt, die Zahl der Jahrtauſende,<lb/>
welche dieſe Zeitraͤume zuſammenſetzen, annaͤhernd zu berechnen.<lb/>
Man verglich die Dicke der Schlammſchichten, welche erfahrungsge-<lb/>
maͤß waͤhrend eines Jahrhunderts ſich abſetzen, und welche nur we-<lb/>
nige Linien oder Zolle betraͤgt, mit der geſammten Dicke der geſchich-<lb/>
teten Geſteinsmaſſen, deren ideales Syſtem wir ſoeben uͤberblickt ha-<lb/>
ben. Dieſe Dicke mag im Ganzen durchſchnittlich ungefaͤhr 130,000<lb/>
Fuß betragen, und hiervon kommen 70,000 auf das primordiale oder<lb/>
archolithiſche, 42,000 auf das primaͤre oder palaͤolithiſche, 15,000 auf<lb/></p></div></body></text></TEI>
[301/0326]
Unmeßbare Laͤnge der organiſchen Erdgeſchichte.
Der biologiſche Charakter der Quartaͤrzeit liegt weſentlich in der
Entwickelung und Ausbreitung des menſchlichen Organismus und
ſeiner Cultur. Weit mehr als jeder andere Organismus hat der
Menſch umgeſtaltend, zerſtoͤrend und neubildend auf die Thier- und
Pflanzenbevoͤlkerung der Erde eingewirkt. Aus dieſem Grunde, —
nicht weil wir dem Menſchen im Uebrigen eine privilegirte Aus-
nahmeſtellung in der Natur einraͤumen — koͤnnen wir mit vollem
Rechte die Ausbreitung des Menſchen mit ſeiner Cultur als Beginn
eines beſonderen letzten Hauptabſchnitts der organiſchen Erdgeſchichte
bezeichnen. Wahrſcheinlich fand allerdings die koͤrperliche Entwickelung
des Urmenſchen aus menſchenaͤhnlichen Affen bereits in der juͤngeren
oder pliocenen, vielleicht ſogar ſchon in der mittleren oder miocenen
Tertiaͤrzeit ſtatt. Allein die eigentliche Entwickelung der menſchli-
chen Sprache, welche wir als den wichtigſten Hebel fuͤr die Ausbil-
dung der eigenthuͤmlichen Vorzuͤge des Menſchen und ſeiner Herrſchaft
uͤber die uͤbrigen Organismen betrachten, faͤllt wahrſcheinlich erſt in
jenen Zeitraum, welchen man aus geologiſchen Gruͤnden als pleiſto-
cene oder diluviale Zeit von der vorhergehenden Pliocenperiode trennt.
Jedenfalls iſt derjenige Zeitraum, welcher ſeit der Entwickelung der
menſchlichen Sprache bis zur Gegenwart verfloß, mag derſelbe auch
viele Jahrtauſende und vielleicht Hunderttauſende von Jahren in An-
ſpruch genommen haben, verſchwindend gering gegen die unermeß-
liche Laͤnge der Zeitraͤume, welche vom Beginn des organiſchen Lebens
auf der Erde bis zur Entſtehung des Menſchengeſchlechts verfloſſen.
Man hat viele Verſuche angeſtellt, die Zahl der Jahrtauſende,
welche dieſe Zeitraͤume zuſammenſetzen, annaͤhernd zu berechnen.
Man verglich die Dicke der Schlammſchichten, welche erfahrungsge-
maͤß waͤhrend eines Jahrhunderts ſich abſetzen, und welche nur we-
nige Linien oder Zolle betraͤgt, mit der geſammten Dicke der geſchich-
teten Geſteinsmaſſen, deren ideales Syſtem wir ſoeben uͤberblickt ha-
ben. Dieſe Dicke mag im Ganzen durchſchnittlich ungefaͤhr 130,000
Fuß betragen, und hiervon kommen 70,000 auf das primordiale oder
archolithiſche, 42,000 auf das primaͤre oder palaͤolithiſche, 15,000 auf
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/326>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.