gewöhnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer zweckmäßig bauenden Schöpferkraft sei. Nichts hat in dieser Bezie- hung der früheren Naturforschung so große Schwierigkeiten verursacht, als die Deutung der sogenannten "rudimentären Organe", derje- nigen Theile im Thier- und Pflanzenkörper, welche eigentlich ohne Lei- stung, ohne physiologische Bedeutung, und dennoch formell vorhanden sind. Diese Theile erregen das allerhöchste Jnteresse, obwohl sie den mei- sten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt sind. Fast jeder Organismus, fast jedes Thier und jede Pflanze, besitzt neben den scheinbar äußerst zweckmäßigen Einrichtungen seiner Gesammtorganisation, eine Reihe von Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzusehen ist.
Beispiele davon finden sich überall. Bei den Embryonen mancher Wiederkäuer, unter Andern bei unserm gewöhnlichen Rindvieh, ste- hen Schneidezähne im Zwischenkiefer der oberen Kinnlade, welche nie- mals zum Durchbruch gelangen, also auch keinen Zweck haben. Die Embryonen mancher Wallfische, welche späterhin die bekannten Bar- ten statt der Zähne besitzen, tragen, so lange sie noch nicht geboren sind und keine Nahrung zu sich nehmen, dennoch Zähne in ihrem Kiefer; auch dieses Gebiß tritt niemals in Thätigkeit. Ferner besitzen die meisten höheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen; selbst der Mensch besitzt solche rudimentäre Muskeln. Die Meisten von uns sind nicht fähig, ihre Ohren willkürlich zu bewegen, obwohl die Muskeln für diese Bewegung vorhanden sind, und obwohl es ein- zelnen Personen, die sich andauernd Mühe geben, diese Muskeln zu üben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. Jn diesen noch jetzt vorhandenen, aber verkümmerten Organen, welche dem vollständigen Verschwinden entgegen gehen, ist es noch möglich, durch besondere Uebung, durch andauernden Einfluß der Willensthätigkeit des Nerven- systems, die beinah erloschene Thätigkeit wieder zu beleben. Auch noch an anderen Stellen seines Körpers besitzt der Mensch solche rudimen- täre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung für das Leben sind und niemals funktioniren.
Zu den schlagendsten Beispielen von rudimentären Organen gehö-
Rudimentaͤre oder unzweckmaͤßige Organe.
gewoͤhnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer zweckmaͤßig bauenden Schoͤpferkraft ſei. Nichts hat in dieſer Bezie- hung der fruͤheren Naturforſchung ſo große Schwierigkeiten verurſacht, als die Deutung der ſogenannten „rudimentaͤren Organe“, derje- nigen Theile im Thier- und Pflanzenkoͤrper, welche eigentlich ohne Lei- ſtung, ohne phyſiologiſche Bedeutung, und dennoch formell vorhanden ſind. Dieſe Theile erregen das allerhoͤchſte Jntereſſe, obwohl ſie den mei- ſten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt ſind. Faſt jeder Organismus, faſt jedes Thier und jede Pflanze, beſitzt neben den ſcheinbar aͤußerſt zweckmaͤßigen Einrichtungen ſeiner Geſammtorganiſation, eine Reihe von Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzuſehen iſt.
Beiſpiele davon finden ſich uͤberall. Bei den Embryonen mancher Wiederkaͤuer, unter Andern bei unſerm gewoͤhnlichen Rindvieh, ſte- hen Schneidezaͤhne im Zwiſchenkiefer der oberen Kinnlade, welche nie- mals zum Durchbruch gelangen, alſo auch keinen Zweck haben. Die Embryonen mancher Wallfiſche, welche ſpaͤterhin die bekannten Bar- ten ſtatt der Zaͤhne beſitzen, tragen, ſo lange ſie noch nicht geboren ſind und keine Nahrung zu ſich nehmen, dennoch Zaͤhne in ihrem Kiefer; auch dieſes Gebiß tritt niemals in Thaͤtigkeit. Ferner beſitzen die meiſten hoͤheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen; ſelbſt der Menſch beſitzt ſolche rudimentaͤre Muskeln. Die Meiſten von uns ſind nicht faͤhig, ihre Ohren willkuͤrlich zu bewegen, obwohl die Muskeln fuͤr dieſe Bewegung vorhanden ſind, und obwohl es ein- zelnen Perſonen, die ſich andauernd Muͤhe geben, dieſe Muskeln zu uͤben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. Jn dieſen noch jetzt vorhandenen, aber verkuͤmmerten Organen, welche dem vollſtaͤndigen Verſchwinden entgegen gehen, iſt es noch moͤglich, durch beſondere Uebung, durch andauernden Einfluß der Willensthaͤtigkeit des Nerven- ſyſtems, die beinah erloſchene Thaͤtigkeit wieder zu beleben. Auch noch an anderen Stellen ſeines Koͤrpers beſitzt der Menſch ſolche rudimen- taͤre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung fuͤr das Leben ſind und niemals funktioniren.
Zu den ſchlagendſten Beiſpielen von rudimentaͤren Organen gehoͤ-
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Rudimentaͤre oder unzweckmaͤßige Organe.
gewoͤhnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer
zweckmaͤßig bauenden Schoͤpferkraft ſei. Nichts hat in dieſer Bezie-
hung der fruͤheren Naturforſchung ſo große Schwierigkeiten verurſacht,
als die Deutung der ſogenannten „rudimentaͤren Organe“, derje-
nigen Theile im Thier- und Pflanzenkoͤrper, welche eigentlich ohne Lei-
ſtung, ohne phyſiologiſche Bedeutung, und dennoch formell vorhanden
ſind. Dieſe Theile erregen das allerhoͤchſte Jntereſſe, obwohl ſie den mei-
ſten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt ſind. Faſt jeder Organismus,
faſt jedes Thier und jede Pflanze, beſitzt neben den ſcheinbar aͤußerſt
zweckmaͤßigen Einrichtungen ſeiner Geſammtorganiſation, eine Reihe
von Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzuſehen iſt.
Beiſpiele davon finden ſich uͤberall. Bei den Embryonen mancher
Wiederkaͤuer, unter Andern bei unſerm gewoͤhnlichen Rindvieh, ſte-
hen Schneidezaͤhne im Zwiſchenkiefer der oberen Kinnlade, welche nie-
mals zum Durchbruch gelangen, alſo auch keinen Zweck haben. Die
Embryonen mancher Wallfiſche, welche ſpaͤterhin die bekannten Bar-
ten ſtatt der Zaͤhne beſitzen, tragen, ſo lange ſie noch nicht geboren ſind
und keine Nahrung zu ſich nehmen, dennoch Zaͤhne in ihrem Kiefer;
auch dieſes Gebiß tritt niemals in Thaͤtigkeit. Ferner beſitzen die
meiſten hoͤheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen;
ſelbſt der Menſch beſitzt ſolche rudimentaͤre Muskeln. Die Meiſten
von uns ſind nicht faͤhig, ihre Ohren willkuͤrlich zu bewegen, obwohl
die Muskeln fuͤr dieſe Bewegung vorhanden ſind, und obwohl es ein-
zelnen Perſonen, die ſich andauernd Muͤhe geben, dieſe Muskeln zu
uͤben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. Jn dieſen noch jetzt
vorhandenen, aber verkuͤmmerten Organen, welche dem vollſtaͤndigen
Verſchwinden entgegen gehen, iſt es noch moͤglich, durch beſondere
Uebung, durch andauernden Einfluß der Willensthaͤtigkeit des Nerven-
ſyſtems, die beinah erloſchene Thaͤtigkeit wieder zu beleben. Auch noch
an anderen Stellen ſeines Koͤrpers beſitzt der Menſch ſolche rudimen-
taͤre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung fuͤr das Leben
ſind und niemals funktioniren.
Zu den ſchlagendſten Beiſpielen von rudimentaͤren Organen gehoͤ-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/31>, abgerufen am 23.07.2024.
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