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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Begriff der Schöpfung. Wissen und Glauben.
oder an die Entstehung seiner Form (der körperlichen Gestalt)
denken.

Die Schöpfung im ersteren Sinne, als die Entstehung der
Materie,
geht uns hier gar nichts an. Dieser Vorgang, wenn er
überhaupt jemals stattgefunden hat, ist gänzlich der menschlichen Er-
kenntniß entzogen, und kann daher auch niemals Gegenstand natur-
wissenschaftlicher Erforschung sein. Die Naturwissenschaft hält die
Materie für ewig und unvergänglich, weil durch die Erfahrung noch
niemals das Entstehen und Vergehen auch nur des kleinsten Theilchens
der Materie nachgewiesen worden ist. Da wo ein Naturkörper zu
verschwinden scheint, wie z. B. beim Verbrennen, beim Verwesen, beim
Verdunsten u. s. w., da ändert er nur seine Form, seinen physikali-
schen Aggregatzustand oder seine chemische Verbindungsweise. Aber
noch niemals ist ein Fall beobachtet worden, daß auch nur das kleinste
Stofftheilchen aus der Welt verschwunden, oder nur ein Atom zu der
bereits vorhandenen Masse hinzugekommen ist. Der Naturforscher kann
sich daher ein Entstehen der Materie eben so wenig als ein Vergehen
derselben vorstellen, und betrachtet deshalb die in der Welt bestehende
Quantität der Materie als eine gegebene Thatsache. Fühlt Jemand
das Bedürfniß, sich die Entstehung dieser Materie als die Wirkung
einer übernatürlichen Schöpfungsthätigkeit, einer außerhalb der Ma-
terie stehenden schöpferischen Kraft vorzustellen, so haben wir Nichts
dagegen. Aber wir müssen bemerken, daß damit auch nicht das Ge-
ringste für eine wissenschaftliche Naturerkenntniß gewonnen ist. Eine
solche Vorstellung von einer immateriellen Kraft, welche die Materie
erst schafft, ist ein Glaubensartikel, welcher mit der menschlichen Wissen-
schaft gar nichts zu thun hat. Wo der Glaube anfängt, hört
die Wissenschaft auf.
Beide Thätigkeiten des menschlichen Gei-
stes sind scharf von einander zu halten. Der Glaube hat seinen Ur-
sprung in der dichtenden Einbildungskraft, das Wissen dagegen in
dem erkennenden Verstande des Menschen. Die Wissenschaft hat die
segenbringenden Früchte von dem Baume der Erkenntniß zu pflücken,

Begriff der Schoͤpfung. Wiſſen und Glauben.
oder an die Entſtehung ſeiner Form (der koͤrperlichen Geſtalt)
denken.

Die Schoͤpfung im erſteren Sinne, als die Entſtehung der
Materie,
geht uns hier gar nichts an. Dieſer Vorgang, wenn er
uͤberhaupt jemals ſtattgefunden hat, iſt gaͤnzlich der menſchlichen Er-
kenntniß entzogen, und kann daher auch niemals Gegenſtand natur-
wiſſenſchaftlicher Erforſchung ſein. Die Naturwiſſenſchaft haͤlt die
Materie fuͤr ewig und unvergaͤnglich, weil durch die Erfahrung noch
niemals das Entſtehen und Vergehen auch nur des kleinſten Theilchens
der Materie nachgewieſen worden iſt. Da wo ein Naturkoͤrper zu
verſchwinden ſcheint, wie z. B. beim Verbrennen, beim Verweſen, beim
Verdunſten u. ſ. w., da aͤndert er nur ſeine Form, ſeinen phyſikali-
ſchen Aggregatzuſtand oder ſeine chemiſche Verbindungsweiſe. Aber
noch niemals iſt ein Fall beobachtet worden, daß auch nur das kleinſte
Stofftheilchen aus der Welt verſchwunden, oder nur ein Atom zu der
bereits vorhandenen Maſſe hinzugekommen iſt. Der Naturforſcher kann
ſich daher ein Entſtehen der Materie eben ſo wenig als ein Vergehen
derſelben vorſtellen, und betrachtet deshalb die in der Welt beſtehende
Quantitaͤt der Materie als eine gegebene Thatſache. Fuͤhlt Jemand
das Beduͤrfniß, ſich die Entſtehung dieſer Materie als die Wirkung
einer uͤbernatuͤrlichen Schoͤpfungsthaͤtigkeit, einer außerhalb der Ma-
terie ſtehenden ſchoͤpferiſchen Kraft vorzuſtellen, ſo haben wir Nichts
dagegen. Aber wir muͤſſen bemerken, daß damit auch nicht das Ge-
ringſte fuͤr eine wiſſenſchaftliche Naturerkenntniß gewonnen iſt. Eine
ſolche Vorſtellung von einer immateriellen Kraft, welche die Materie
erſt ſchafft, iſt ein Glaubensartikel, welcher mit der menſchlichen Wiſſen-
ſchaft gar nichts zu thun hat. Wo der Glaube anfaͤngt, hoͤrt
die Wiſſenſchaft auf.
Beide Thaͤtigkeiten des menſchlichen Gei-
ſtes ſind ſcharf von einander zu halten. Der Glaube hat ſeinen Ur-
ſprung in der dichtenden Einbildungskraft, das Wiſſen dagegen in
dem erkennenden Verſtande des Menſchen. Die Wiſſenſchaft hat die
ſegenbringenden Fruͤchte von dem Baume der Erkenntniß zu pfluͤcken,

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[7/0028] Begriff der Schoͤpfung. Wiſſen und Glauben. oder an die Entſtehung ſeiner Form (der koͤrperlichen Geſtalt) denken. Die Schoͤpfung im erſteren Sinne, als die Entſtehung der Materie, geht uns hier gar nichts an. Dieſer Vorgang, wenn er uͤberhaupt jemals ſtattgefunden hat, iſt gaͤnzlich der menſchlichen Er- kenntniß entzogen, und kann daher auch niemals Gegenſtand natur- wiſſenſchaftlicher Erforſchung ſein. Die Naturwiſſenſchaft haͤlt die Materie fuͤr ewig und unvergaͤnglich, weil durch die Erfahrung noch niemals das Entſtehen und Vergehen auch nur des kleinſten Theilchens der Materie nachgewieſen worden iſt. Da wo ein Naturkoͤrper zu verſchwinden ſcheint, wie z. B. beim Verbrennen, beim Verweſen, beim Verdunſten u. ſ. w., da aͤndert er nur ſeine Form, ſeinen phyſikali- ſchen Aggregatzuſtand oder ſeine chemiſche Verbindungsweiſe. Aber noch niemals iſt ein Fall beobachtet worden, daß auch nur das kleinſte Stofftheilchen aus der Welt verſchwunden, oder nur ein Atom zu der bereits vorhandenen Maſſe hinzugekommen iſt. Der Naturforſcher kann ſich daher ein Entſtehen der Materie eben ſo wenig als ein Vergehen derſelben vorſtellen, und betrachtet deshalb die in der Welt beſtehende Quantitaͤt der Materie als eine gegebene Thatſache. Fuͤhlt Jemand das Beduͤrfniß, ſich die Entſtehung dieſer Materie als die Wirkung einer uͤbernatuͤrlichen Schoͤpfungsthaͤtigkeit, einer außerhalb der Ma- terie ſtehenden ſchoͤpferiſchen Kraft vorzuſtellen, ſo haben wir Nichts dagegen. Aber wir muͤſſen bemerken, daß damit auch nicht das Ge- ringſte fuͤr eine wiſſenſchaftliche Naturerkenntniß gewonnen iſt. Eine ſolche Vorſtellung von einer immateriellen Kraft, welche die Materie erſt ſchafft, iſt ein Glaubensartikel, welcher mit der menſchlichen Wiſſen- ſchaft gar nichts zu thun hat. Wo der Glaube anfaͤngt, hoͤrt die Wiſſenſchaft auf. Beide Thaͤtigkeiten des menſchlichen Gei- ſtes ſind ſcharf von einander zu halten. Der Glaube hat ſeinen Ur- ſprung in der dichtenden Einbildungskraft, das Wiſſen dagegen in dem erkennenden Verſtande des Menſchen. Die Wiſſenſchaft hat die ſegenbringenden Fruͤchte von dem Baume der Erkenntniß zu pfluͤcken,

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/28>, abgerufen am 21.11.2024.