meisten Naturforscher davon, die Mehrzahl der sogenannten "Zoo- logen" (mit Einschluß der Entomologen!) nicht ausgenommen?
Die Antwort auf diese Frage fällt sehr beschämend aus, und wir müssen wohl oder übel eingestehen, daß jene unschätzbaren That- sachen der menschlichen Ontogenie noch heute den Meisten entweder ganz unbekannt sind, oder doch keineswegs in gebührender Weise ge- würdigt werden. Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem schiefen und einseitigen Wege sich die vielgerühmte Bildung des neun- zehnten Jahrhunderts noch gegenwärtig befindet. Unwissenheit und Aber- glauben sind die Grundlagen, auf denen sich die meisten Menschen das Verständniß ihres eigenen Organismus und seiner Beziehungen zur Ge- sammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreiflichen Thatsachen der Entwickelungsgeschichte, welche das Licht der Wahrheit darüber verbrei- ten könnten, werden ignorirt. Allerdings sind diese Thatsachen nicht ge- eignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu erregen, welche einen durch- greifenden Unterschied zwischen dem Menschen und der übrigen Natur annehmen und namentlich den thierischen Ursprung des Menschenge- schlechts nicht zugeben wollen. Jnsbesondere müssen bei denjenigen Völkern, bei denen in Folge von falscher Auffassung der Erblichkeitsge- setze eine erbliche Kasteneintheilung existirt, die Mitglieder der herrschen- den privilegirten Kasten dadurch sehr unangenehm berührt werden. Bekanntlich geht heute noch in vielen Culturländern die erbliche Ab- stufung der Stände so weit, daß z. B. der Adel ganz anderer Na- tur, als der Bürgerstand zu sein glaubt, und daß Edelleute, welche ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe dafür aus der Adels- kaste ausgestoßen und in die Pariakaste des "gemeinen" Bürgerstandes hinabgeschleudert werden. Was sollen diese Edelleute noch von dem Vollblut, das in ihren privilegirten Adern rollt, denken, wenn sie er- fahren, daß alle menschlichen Embryonen, adelige ebenso wie bürger- liche, während der ersten beiden Monate der Entwickelung von den geschwänzten Embryonen des Hundes und anderer Säugethiere kaum zu unterscheiden sind? (Fig. A -- D auf beistehenden Tafeln).
Allgemeine Bedeutung der Ontogenie.
meiſten Naturforſcher davon, die Mehrzahl der ſogenannten „Zoo- logen“ (mit Einſchluß der Entomologen!) nicht ausgenommen?
Die Antwort auf dieſe Frage faͤllt ſehr beſchaͤmend aus, und wir muͤſſen wohl oder uͤbel eingeſtehen, daß jene unſchaͤtzbaren That- ſachen der menſchlichen Ontogenie noch heute den Meiſten entweder ganz unbekannt ſind, oder doch keineswegs in gebuͤhrender Weiſe ge- wuͤrdigt werden. Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem ſchiefen und einſeitigen Wege ſich die vielgeruͤhmte Bildung des neun- zehnten Jahrhunderts noch gegenwaͤrtig befindet. Unwiſſenheit und Aber- glauben ſind die Grundlagen, auf denen ſich die meiſten Menſchen das Verſtaͤndniß ihres eigenen Organismus und ſeiner Beziehungen zur Ge- ſammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreiflichen Thatſachen der Entwickelungsgeſchichte, welche das Licht der Wahrheit daruͤber verbrei- ten koͤnnten, werden ignorirt. Allerdings ſind dieſe Thatſachen nicht ge- eignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu erregen, welche einen durch- greifenden Unterſchied zwiſchen dem Menſchen und der uͤbrigen Natur annehmen und namentlich den thieriſchen Urſprung des Menſchenge- ſchlechts nicht zugeben wollen. Jnsbeſondere muͤſſen bei denjenigen Voͤlkern, bei denen in Folge von falſcher Auffaſſung der Erblichkeitsge- ſetze eine erbliche Kaſteneintheilung exiſtirt, die Mitglieder der herrſchen- den privilegirten Kaſten dadurch ſehr unangenehm beruͤhrt werden. Bekanntlich geht heute noch in vielen Culturlaͤndern die erbliche Ab- ſtufung der Staͤnde ſo weit, daß z. B. der Adel ganz anderer Na- tur, als der Buͤrgerſtand zu ſein glaubt, und daß Edelleute, welche ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe dafuͤr aus der Adels- kaſte ausgeſtoßen und in die Pariakaſte des „gemeinen“ Buͤrgerſtandes hinabgeſchleudert werden. Was ſollen dieſe Edelleute noch von dem Vollblut, das in ihren privilegirten Adern rollt, denken, wenn ſie er- fahren, daß alle menſchlichen Embryonen, adelige ebenſo wie buͤrger- liche, waͤhrend der erſten beiden Monate der Entwickelung von den geſchwaͤnzten Embryonen des Hundes und anderer Saͤugethiere kaum zu unterſcheiden ſind? (Fig. A — D auf beiſtehenden Tafeln).
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Allgemeine Bedeutung der Ontogenie.
meiſten Naturforſcher davon, die Mehrzahl der ſogenannten „Zoo-
logen“ (mit Einſchluß der Entomologen!) nicht ausgenommen?
Die Antwort auf dieſe Frage faͤllt ſehr beſchaͤmend aus, und
wir muͤſſen wohl oder uͤbel eingeſtehen, daß jene unſchaͤtzbaren That-
ſachen der menſchlichen Ontogenie noch heute den Meiſten entweder
ganz unbekannt ſind, oder doch keineswegs in gebuͤhrender Weiſe ge-
wuͤrdigt werden. Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem
ſchiefen und einſeitigen Wege ſich die vielgeruͤhmte Bildung des neun-
zehnten Jahrhunderts noch gegenwaͤrtig befindet. Unwiſſenheit und Aber-
glauben ſind die Grundlagen, auf denen ſich die meiſten Menſchen das
Verſtaͤndniß ihres eigenen Organismus und ſeiner Beziehungen zur Ge-
ſammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreiflichen Thatſachen der
Entwickelungsgeſchichte, welche das Licht der Wahrheit daruͤber verbrei-
ten koͤnnten, werden ignorirt. Allerdings ſind dieſe Thatſachen nicht ge-
eignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu erregen, welche einen durch-
greifenden Unterſchied zwiſchen dem Menſchen und der uͤbrigen Natur
annehmen und namentlich den thieriſchen Urſprung des Menſchenge-
ſchlechts nicht zugeben wollen. Jnsbeſondere muͤſſen bei denjenigen
Voͤlkern, bei denen in Folge von falſcher Auffaſſung der Erblichkeitsge-
ſetze eine erbliche Kaſteneintheilung exiſtirt, die Mitglieder der herrſchen-
den privilegirten Kaſten dadurch ſehr unangenehm beruͤhrt werden.
Bekanntlich geht heute noch in vielen Culturlaͤndern die erbliche Ab-
ſtufung der Staͤnde ſo weit, daß z. B. der Adel ganz anderer Na-
tur, als der Buͤrgerſtand zu ſein glaubt, und daß Edelleute, welche
ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe dafuͤr aus der Adels-
kaſte ausgeſtoßen und in die Pariakaſte des „gemeinen“ Buͤrgerſtandes
hinabgeſchleudert werden. Was ſollen dieſe Edelleute noch von dem
Vollblut, das in ihren privilegirten Adern rollt, denken, wenn ſie er-
fahren, daß alle menſchlichen Embryonen, adelige ebenſo wie buͤrger-
liche, waͤhrend der erſten beiden Monate der Entwickelung von den
geſchwaͤnzten Embryonen des Hundes und anderer Saͤugethiere
kaum zu unterſcheiden ſind? (Fig. A — D auf beiſtehenden Tafeln).
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/261>, abgerufen am 24.11.2024.
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