Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Differenzirung und Fortschritt in der Ontogenesis. duelle Entwickelung oder die Ontogenesis jedes einzelnen Organismusvom Ei an aufwärts bis zur vollendeten Form, besteht in nichts An- derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs- und Fortschrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weise von den Thieren, wie von den Pflanzen und Protisten. Wenn Sie z. B. die Ontogenie irgend eines Säugethiers, des Menschen, des Affen oder des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klasse verfolgen, so fin- den Sie überall wesentlich dieselben Erscheinungen. Jedes dieser Thiere entwickelt sich ursprünglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei. Diese Zelle vermehrt sich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen, und durch Wachsthum dieses Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus- bildung der ursprünglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung und Vervollkommnung derselben, entsteht der vollkommene Organis- mus, dessen Zusammensetzung wir bewundern. Hier scheint es mir nun unerläßlich, Jhre Aufmerksamkeit etwas Man muß in der That erstaunen, wenn man die tiefe Unkennt- Differenzirung und Fortſchritt in der Ontogeneſis. duelle Entwickelung oder die Ontogeneſis jedes einzelnen Organismusvom Ei an aufwaͤrts bis zur vollendeten Form, beſteht in nichts An- derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs- und Fortſchrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weiſe von den Thieren, wie von den Pflanzen und Protiſten. Wenn Sie z. B. die Ontogenie irgend eines Saͤugethiers, des Menſchen, des Affen oder des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klaſſe verfolgen, ſo fin- den Sie uͤberall weſentlich dieſelben Erſcheinungen. Jedes dieſer Thiere entwickelt ſich urſpruͤnglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei. Dieſe Zelle vermehrt ſich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen, und durch Wachsthum dieſes Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus- bildung der urſpruͤnglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung und Vervollkommnung derſelben, entſteht der vollkommene Organis- mus, deſſen Zuſammenſetzung wir bewundern. Hier ſcheint es mir nun unerlaͤßlich, Jhre Aufmerkſamkeit etwas Man muß in der That erſtaunen, wenn man die tiefe Unkennt- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0259" n="238"/><fw place="top" type="header">Differenzirung und Fortſchritt in der Ontogeneſis.</fw><lb/> duelle Entwickelung oder die Ontogeneſis jedes einzelnen Organismus<lb/> vom Ei an aufwaͤrts bis zur vollendeten Form, beſteht in nichts An-<lb/> derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs-<lb/> und Fortſchrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weiſe von den<lb/> Thieren, wie von den Pflanzen und Protiſten. Wenn Sie z. B. die<lb/> Ontogenie irgend eines Saͤugethiers, des Menſchen, des Affen oder<lb/> des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend<lb/> eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klaſſe verfolgen, ſo fin-<lb/> den Sie uͤberall weſentlich dieſelben Erſcheinungen. 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Differenzirung und Fortſchritt in der Ontogeneſis.
duelle Entwickelung oder die Ontogeneſis jedes einzelnen Organismus
vom Ei an aufwaͤrts bis zur vollendeten Form, beſteht in nichts An-
derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs-
und Fortſchrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weiſe von den
Thieren, wie von den Pflanzen und Protiſten. Wenn Sie z. B. die
Ontogenie irgend eines Saͤugethiers, des Menſchen, des Affen oder
des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend
eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klaſſe verfolgen, ſo fin-
den Sie uͤberall weſentlich dieſelben Erſcheinungen. Jedes dieſer
Thiere entwickelt ſich urſpruͤnglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei.
Dieſe Zelle vermehrt ſich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen,
und durch Wachsthum dieſes Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus-
bildung der urſpruͤnglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung
und Vervollkommnung derſelben, entſteht der vollkommene Organis-
mus, deſſen Zuſammenſetzung wir bewundern.
Hier ſcheint es mir nun unerlaͤßlich, Jhre Aufmerkſamkeit etwas
eingehender auf jene unendlich wichtigen und intereſſanten Vorgaͤnge
hinzulenken, welche die Ontogeneſis oder die individuelle
Entwickelung der Organismen, und ganz vorzuͤglich diejenige
der Wirbelthiere mit Einſchluß des Menſchen begleiten. Jch moͤchte
dieſe außerordentlich merkwuͤrdigen und lehrreichen Erſcheinungen
ganz beſonders Jhrem eingehendſten Nachdenken empfehlen, einerſeits,
weil dieſelben zu den ſtaͤrkſten Stuͤtzen der Deſcendenztheorie gehoͤren,
andrerſeits, weil dieſelben bisher nur von Wenigen in ihrer unermeß-
lichen allgemeinen Bedeutung gewuͤrdigt worden ſind.
Man muß in der That erſtaunen, wenn man die tiefe Unkennt-
niß erwaͤgt, welche noch gegenwaͤrtig in den weiteſten Kreiſen uͤber
die Thatſachen der individuellen Entwickelung des Menſchen und der
Organismen uͤberhaupt herrſcht. Dieſe Thatſachen, deren allgemeine
Bedeutung man nicht hoch genug anſchlagen kann, wurden in ihren
wichtigſten Grundzuͤgen ſchon vor mehr als einem Jahrhundert, im
Jahre 1759, von dem großen deutſchen Naturforſcher Caspar Frie-
drich Wolff in ſeiner klaſſiſchen „Theoria generationis“
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