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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Fortschritt ohne Differenzirung.
keine allgemeine Gültigkeit. Vielmehr zeigt sich in vielen einzelnen
Fällen, daß Divergenz und Fortschritt keineswegs durchweg zusam-
menfallen. Es ist nicht jeder Fortschritt eine Differen-
zirung, und es ist nicht jede Differenzirung ein Fort-
schritt.

Was zunächst die Vervollkommnung oder den Fortschritt betrifft,
so hat man schon früher, durch rein anatomische Betrachtungen ge-
leitet, das Gesetz aufgestellt, daß allerdings die Vervollkommnung
des Organismus größtentheils auf der Arbeitstheilung der einzelnen
Organe und Körpertheile beruht, daß es jedoch auch andere organi-
sche Umbildungen gibt, welche einen Fortschritt in der Organisation
bedingen. Eine solche ist besonders die Zahlverminderung
gleichartiger Theile.
Wenn Sie z. B. die niederen krebsartigen
Gliederthiere, welche sehr zahlreiche Beinpaare besitzen, vergleichen
mit den Spinnen, die stets nur vier Beinpaare, und mit den Jnsecten,
die stets nur drei Beinpaare besitzen, so finden Sie dieses Gesetz, für
welches eine Masse von Beispielen sich anführen läßt, bestätigt. Die
Zahlreduction der Beinpaare ist ein Fortschritt in der Organisation der
Gliederthiere. Ebenso ist die Zahlreduction der gleichartigen Wirbel-
abschnitte des Rumpfes bei den Wirbelthieren ein Fortschritt in deren
Organisation. Die Fische und Amphibien mit einer sehr großen An-
zahl von gleichartigen Wirbeln sind schon deshalb unvollkommener und
niedriger als die Vögel und Säugethiere, bei denen die Wirbel nicht
nur im Ganzen viel mehr differenzirt, sondern auch die Zahl der
gleichartigen Wirbel viel geringer ist. Nach demselben Gesetze der
Zahlverminderung sind ferner die Blüthen mit zahlreichen Staub-
fäden unvollkommener als die Blüthen der verwandten Pflanzen mit
einer geringen Staubfädenzahl u. s. w. Wenn also ursprünglich eine
sehr große Anzahl von gleichartigen Theilen im Körper vorhanden
war, und wenn diese Zahl im Laufe zahlreicher Generationen allmäh-
lich abnahm, so war diese Umbildung eine Vervollkommnung.

Ein anderes Fortschrittsgesetz, welches von der Differenzirung
ganz unabhängig, ja sogar dieser gewissermaßen entgegengesetzt er-

Fortſchritt ohne Differenzirung.
keine allgemeine Guͤltigkeit. Vielmehr zeigt ſich in vielen einzelnen
Faͤllen, daß Divergenz und Fortſchritt keineswegs durchweg zuſam-
menfallen. Es iſt nicht jeder Fortſchritt eine Differen-
zirung, und es iſt nicht jede Differenzirung ein Fort-
ſchritt.

Was zunaͤchſt die Vervollkommnung oder den Fortſchritt betrifft,
ſo hat man ſchon fruͤher, durch rein anatomiſche Betrachtungen ge-
leitet, das Geſetz aufgeſtellt, daß allerdings die Vervollkommnung
des Organismus groͤßtentheils auf der Arbeitstheilung der einzelnen
Organe und Koͤrpertheile beruht, daß es jedoch auch andere organi-
ſche Umbildungen gibt, welche einen Fortſchritt in der Organiſation
bedingen. Eine ſolche iſt beſonders die Zahlverminderung
gleichartiger Theile.
Wenn Sie z. B. die niederen krebsartigen
Gliederthiere, welche ſehr zahlreiche Beinpaare beſitzen, vergleichen
mit den Spinnen, die ſtets nur vier Beinpaare, und mit den Jnſecten,
die ſtets nur drei Beinpaare beſitzen, ſo finden Sie dieſes Geſetz, fuͤr
welches eine Maſſe von Beiſpielen ſich anfuͤhren laͤßt, beſtaͤtigt. Die
Zahlreduction der Beinpaare iſt ein Fortſchritt in der Organiſation der
Gliederthiere. Ebenſo iſt die Zahlreduction der gleichartigen Wirbel-
abſchnitte des Rumpfes bei den Wirbelthieren ein Fortſchritt in deren
Organiſation. Die Fiſche und Amphibien mit einer ſehr großen An-
zahl von gleichartigen Wirbeln ſind ſchon deshalb unvollkommener und
niedriger als die Voͤgel und Saͤugethiere, bei denen die Wirbel nicht
nur im Ganzen viel mehr differenzirt, ſondern auch die Zahl der
gleichartigen Wirbel viel geringer iſt. Nach demſelben Geſetze der
Zahlverminderung ſind ferner die Bluͤthen mit zahlreichen Staub-
faͤden unvollkommener als die Bluͤthen der verwandten Pflanzen mit
einer geringen Staubfaͤdenzahl u. ſ. w. Wenn alſo urſpruͤnglich eine
ſehr große Anzahl von gleichartigen Theilen im Koͤrper vorhanden
war, und wenn dieſe Zahl im Laufe zahlreicher Generationen allmaͤh-
lich abnahm, ſo war dieſe Umbildung eine Vervollkommnung.

Ein anderes Fortſchrittsgeſetz, welches von der Differenzirung
ganz unabhaͤngig, ja ſogar dieſer gewiſſermaßen entgegengeſetzt er-

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[230/0251] Fortſchritt ohne Differenzirung. keine allgemeine Guͤltigkeit. Vielmehr zeigt ſich in vielen einzelnen Faͤllen, daß Divergenz und Fortſchritt keineswegs durchweg zuſam- menfallen. Es iſt nicht jeder Fortſchritt eine Differen- zirung, und es iſt nicht jede Differenzirung ein Fort- ſchritt. Was zunaͤchſt die Vervollkommnung oder den Fortſchritt betrifft, ſo hat man ſchon fruͤher, durch rein anatomiſche Betrachtungen ge- leitet, das Geſetz aufgeſtellt, daß allerdings die Vervollkommnung des Organismus groͤßtentheils auf der Arbeitstheilung der einzelnen Organe und Koͤrpertheile beruht, daß es jedoch auch andere organi- ſche Umbildungen gibt, welche einen Fortſchritt in der Organiſation bedingen. Eine ſolche iſt beſonders die Zahlverminderung gleichartiger Theile. Wenn Sie z. B. die niederen krebsartigen Gliederthiere, welche ſehr zahlreiche Beinpaare beſitzen, vergleichen mit den Spinnen, die ſtets nur vier Beinpaare, und mit den Jnſecten, die ſtets nur drei Beinpaare beſitzen, ſo finden Sie dieſes Geſetz, fuͤr welches eine Maſſe von Beiſpielen ſich anfuͤhren laͤßt, beſtaͤtigt. Die Zahlreduction der Beinpaare iſt ein Fortſchritt in der Organiſation der Gliederthiere. Ebenſo iſt die Zahlreduction der gleichartigen Wirbel- abſchnitte des Rumpfes bei den Wirbelthieren ein Fortſchritt in deren Organiſation. Die Fiſche und Amphibien mit einer ſehr großen An- zahl von gleichartigen Wirbeln ſind ſchon deshalb unvollkommener und niedriger als die Voͤgel und Saͤugethiere, bei denen die Wirbel nicht nur im Ganzen viel mehr differenzirt, ſondern auch die Zahl der gleichartigen Wirbel viel geringer iſt. Nach demſelben Geſetze der Zahlverminderung ſind ferner die Bluͤthen mit zahlreichen Staub- faͤden unvollkommener als die Bluͤthen der verwandten Pflanzen mit einer geringen Staubfaͤdenzahl u. ſ. w. Wenn alſo urſpruͤnglich eine ſehr große Anzahl von gleichartigen Theilen im Koͤrper vorhanden war, und wenn dieſe Zahl im Laufe zahlreicher Generationen allmaͤh- lich abnahm, ſo war dieſe Umbildung eine Vervollkommnung. Ein anderes Fortſchrittsgeſetz, welches von der Differenzirung ganz unabhaͤngig, ja ſogar dieſer gewiſſermaßen entgegengeſetzt er-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/251>, abgerufen am 28.11.2024.