wegen gebührt, und welche es jedenfalls früher oder später erlangen wird. Gerade diese Ungewißheit über den wahren Werth von Dar- wins Theorie ist es, welche mich vorzugsweise bestimmt, dieselbe zum Gegenstand dieser allgemein verständlichen Darstellung zu machen. Jch halte es für die Pflicht der Naturforscher, daß sie nicht allein in dem engeren Kreise, den ihre Fachwissenschaft ihnen vorschreibt, auf Verbesserungen und Entdeckungen sinnen, daß sie sich nicht allein in das Studium des Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt vertiefen, sondern daß sie auch die wichtigen, allgemeinen Resultate ihrer besonderen Studien für das Ganze nutzbar machen, und daß sie naturwissen- schaftliche Bildung im ganzen Volke verbreiten helfen. Der höchste Triumph des menschlichen Geistes, die wahre Erkenntniß der allge- meinsten Naturgesetze, darf nicht das Privateigenthum einer privile- girten Gelehrtenkaste bleiben, sondern muß Gemeingut der ganzen Menschheit werden.
Die Theorie, welche durch Darwin an die Spitze unserer Na- turerkenntniß gestellt worden ist, pflegt man gewöhnlich als Abstam- mungslehre oder Descendenztheorie zu bezeichnen. An- dere nennen sie Umbildungslehre oder Transmutations- theorie. Beide Bezeichnungen sind richtig. Denn diese Lehre be- hauptet, daß alle verschiedenen Organismen (d. h. alle Thier- arten und alle Pflanzenarten, welche jemals auf der Erde gelebt haben, und noch jetzt leben), von einer einzigen oder von wenigen höchst einfachen Stammformen abstammen, und daß sie sich aus diesen auf dem natürlichen Wege allmählicher Umbildung entwickelt haben. Obwohl diese Entwickelungs- theorie schon im Anfange unseres Jahrhunderts von verschiedenen großen Naturforschern, insbesondere von Lamarck2) und Goethe3), aufgestellt und vertheidigt wurde, hat sie doch erst vor neun Jahren durch Darwin ihre vollständige Ausbildung und ihre ursächliche Be- gründung erfahren, und das ist der Grund, weshalb sie jetzt gewöhn- lich ausschließlich (obwohl nicht ganz richtig) als Darwins Theorie bezeichnet wird.
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Weſentlicher Jnhalt der Abſtammungslehre.
wegen gebuͤhrt, und welche es jedenfalls fruͤher oder ſpaͤter erlangen wird. Gerade dieſe Ungewißheit uͤber den wahren Werth von Dar- wins Theorie iſt es, welche mich vorzugsweiſe beſtimmt, dieſelbe zum Gegenſtand dieſer allgemein verſtaͤndlichen Darſtellung zu machen. Jch halte es fuͤr die Pflicht der Naturforſcher, daß ſie nicht allein in dem engeren Kreiſe, den ihre Fachwiſſenſchaft ihnen vorſchreibt, auf Verbeſſerungen und Entdeckungen ſinnen, daß ſie ſich nicht allein in das Studium des Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt vertiefen, ſondern daß ſie auch die wichtigen, allgemeinen Reſultate ihrer beſonderen Studien fuͤr das Ganze nutzbar machen, und daß ſie naturwiſſen- ſchaftliche Bildung im ganzen Volke verbreiten helfen. Der hoͤchſte Triumph des menſchlichen Geiſtes, die wahre Erkenntniß der allge- meinſten Naturgeſetze, darf nicht das Privateigenthum einer privile- girten Gelehrtenkaſte bleiben, ſondern muß Gemeingut der ganzen Menſchheit werden.
Die Theorie, welche durch Darwin an die Spitze unſerer Na- turerkenntniß geſtellt worden iſt, pflegt man gewoͤhnlich als Abſtam- mungslehre oder Deſcendenztheorie zu bezeichnen. An- dere nennen ſie Umbildungslehre oder Transmutations- theorie. Beide Bezeichnungen ſind richtig. Denn dieſe Lehre be- hauptet, daß alle verſchiedenen Organismen (d. h. alle Thier- arten und alle Pflanzenarten, welche jemals auf der Erde gelebt haben, und noch jetzt leben), von einer einzigen oder von wenigen hoͤchſt einfachen Stammformen abſtammen, und daß ſie ſich aus dieſen auf dem natuͤrlichen Wege allmaͤhlicher Umbildung entwickelt haben. Obwohl dieſe Entwickelungs- theorie ſchon im Anfange unſeres Jahrhunderts von verſchiedenen großen Naturforſchern, insbeſondere von Lamarck2) und Goethe3), aufgeſtellt und vertheidigt wurde, hat ſie doch erſt vor neun Jahren durch Darwin ihre vollſtaͤndige Ausbildung und ihre urſaͤchliche Be- gruͤndung erfahren, und das iſt der Grund, weshalb ſie jetzt gewoͤhn- lich ausſchließlich (obwohl nicht ganz richtig) als Darwins Theorie bezeichnet wird.
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[3/0024]
Weſentlicher Jnhalt der Abſtammungslehre.
wegen gebuͤhrt, und welche es jedenfalls fruͤher oder ſpaͤter erlangen
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wins Theorie iſt es, welche mich vorzugsweiſe beſtimmt, dieſelbe zum
Gegenſtand dieſer allgemein verſtaͤndlichen Darſtellung zu machen.
Jch halte es fuͤr die Pflicht der Naturforſcher, daß ſie nicht allein in
dem engeren Kreiſe, den ihre Fachwiſſenſchaft ihnen vorſchreibt, auf
Verbeſſerungen und Entdeckungen ſinnen, daß ſie ſich nicht allein in
das Studium des Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt vertiefen, ſondern
daß ſie auch die wichtigen, allgemeinen Reſultate ihrer beſonderen
Studien fuͤr das Ganze nutzbar machen, und daß ſie naturwiſſen-
ſchaftliche Bildung im ganzen Volke verbreiten helfen. Der hoͤchſte
Triumph des menſchlichen Geiſtes, die wahre Erkenntniß der allge-
meinſten Naturgeſetze, darf nicht das Privateigenthum einer privile-
girten Gelehrtenkaſte bleiben, ſondern muß Gemeingut der ganzen
Menſchheit werden.
Die Theorie, welche durch Darwin an die Spitze unſerer Na-
turerkenntniß geſtellt worden iſt, pflegt man gewoͤhnlich als Abſtam-
mungslehre oder Deſcendenztheorie zu bezeichnen. An-
dere nennen ſie Umbildungslehre oder Transmutations-
theorie. Beide Bezeichnungen ſind richtig. Denn dieſe Lehre be-
hauptet, daß alle verſchiedenen Organismen (d. h. alle Thier-
arten und alle Pflanzenarten, welche jemals auf der Erde gelebt haben,
und noch jetzt leben), von einer einzigen oder von wenigen
hoͤchſt einfachen Stammformen abſtammen, und daß ſie
ſich aus dieſen auf dem natuͤrlichen Wege allmaͤhlicher
Umbildung entwickelt haben. Obwohl dieſe Entwickelungs-
theorie ſchon im Anfange unſeres Jahrhunderts von verſchiedenen
großen Naturforſchern, insbeſondere von Lamarck 2) und Goethe 3),
aufgeſtellt und vertheidigt wurde, hat ſie doch erſt vor neun Jahren
durch Darwin ihre vollſtaͤndige Ausbildung und ihre urſaͤchliche Be-
gruͤndung erfahren, und das iſt der Grund, weshalb ſie jetzt gewoͤhn-
lich ausſchließlich (obwohl nicht ganz richtig) als Darwins Theorie
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/24>, abgerufen am 23.07.2024.
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