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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Triebfedern des Kampfes um's Dasein: Hunger und Liebe.
Jn einigen Fällen wurden auf einer solchen von Ziegen oder Schwei-
nen übervölkerten Jnsel später von anderen Seefahrern ein Paar
Hunde ausgesetzt, die sich in diesem Futterüberfluß sehr wohl befan-
den, sich wieder sehr rasch vermehrten und furchtbar unter den Heer-
den aufräumten, so daß nach einer Anzahl von Jahren den Hunden
selbst das Futter fehlte, und auch sie beinahe ausstarben. So wechselt
beständig in der Oekonomie der Natur das Gleichgewicht der Arten,
je nachdem die eine oder andere Art sich auf Kosten der übrigen ver-
mehrt. Jn den meisten Fällen sind freilich die Beziehungen der ver-
schiedenen Thier- und Pflanzenarten zu einander viel zu verwickelt, als
daß wir ihnen nachkommen könnten, und ich überlasse es Jhrem eige-
nen Nachdenken, sich auszumalen, welches unendlich verwickelte Ge-
triebe an jeder Stelle der Erde in Folge dieses Kampfes stattfinden
muß. Jn letzter Jnstanz sind die Triebfedern, welche den Kampf be-
dingen, und welche den Kampf an allen verschiedenen Stellen verschie-
den gestalten und modificiren, die Triebfedern der Selbsterhaltung, und
zwar sowohl der Erhaltungstrieb der Jndividuen (Ernährungstrieb),
als der Erhaltungstrieb der Arten (Fortpflanzungstrieb). Diese bei-
den Grundtriebe der organischen Selbsterhaltung sind es, von denen
der Dichter sagt:

"So lange bis den Bau der Welt
"Philosophie zusammenhält,
"Erhält sich ihr Getriebe
"Durch Hunger und durch Liebe."

Diese beiden mächtigen Grundtriebe sind es, welche durch ihre
verschiedene Ausbildung in den verschiedenen Arten den Kampf um's
Dasein so ungemein mannichfaltig gestalten, und welche den Erschei-
nungen der Vererbung und Anpassung zu Grunde liegen. Wir konn-
ten alle Vererbung auf die Fortpflanzung, alle Anpassung auf die Er-
nährung als die materielle Grundursache zurückführen.

Der Kampf um das Dasein wirkt bei der natürlichen Züchtung ebenso
züchtend oder auslesend, wie der Wille des Menschen bei der künstlichen
Züchtung. Aber dieser wirkt planmäßig und bewußt, jener planlos und

Triebfedern des Kampfes um’s Daſein: Hunger und Liebe.
Jn einigen Faͤllen wurden auf einer ſolchen von Ziegen oder Schwei-
nen uͤbervoͤlkerten Jnſel ſpaͤter von anderen Seefahrern ein Paar
Hunde ausgeſetzt, die ſich in dieſem Futteruͤberfluß ſehr wohl befan-
den, ſich wieder ſehr raſch vermehrten und furchtbar unter den Heer-
den aufraͤumten, ſo daß nach einer Anzahl von Jahren den Hunden
ſelbſt das Futter fehlte, und auch ſie beinahe ausſtarben. So wechſelt
beſtaͤndig in der Oekonomie der Natur das Gleichgewicht der Arten,
je nachdem die eine oder andere Art ſich auf Koſten der uͤbrigen ver-
mehrt. Jn den meiſten Faͤllen ſind freilich die Beziehungen der ver-
ſchiedenen Thier- und Pflanzenarten zu einander viel zu verwickelt, als
daß wir ihnen nachkommen koͤnnten, und ich uͤberlaſſe es Jhrem eige-
nen Nachdenken, ſich auszumalen, welches unendlich verwickelte Ge-
triebe an jeder Stelle der Erde in Folge dieſes Kampfes ſtattfinden
muß. Jn letzter Jnſtanz ſind die Triebfedern, welche den Kampf be-
dingen, und welche den Kampf an allen verſchiedenen Stellen verſchie-
den geſtalten und modificiren, die Triebfedern der Selbſterhaltung, und
zwar ſowohl der Erhaltungstrieb der Jndividuen (Ernaͤhrungstrieb),
als der Erhaltungstrieb der Arten (Fortpflanzungstrieb). Dieſe bei-
den Grundtriebe der organiſchen Selbſterhaltung ſind es, von denen
der Dichter ſagt:

„So lange bis den Bau der Welt
„Philoſophie zuſammenhaͤlt,
„Erhaͤlt ſich ihr Getriebe
„Durch Hunger und durch Liebe.“

Dieſe beiden maͤchtigen Grundtriebe ſind es, welche durch ihre
verſchiedene Ausbildung in den verſchiedenen Arten den Kampf um’s
Daſein ſo ungemein mannichfaltig geſtalten, und welche den Erſchei-
nungen der Vererbung und Anpaſſung zu Grunde liegen. Wir konn-
ten alle Vererbung auf die Fortpflanzung, alle Anpaſſung auf die Er-
naͤhrung als die materielle Grundurſache zuruͤckfuͤhren.

Der Kampf um das Daſein wirkt bei der natuͤrlichen Zuͤchtung ebenſo
zuͤchtend oder ausleſend, wie der Wille des Menſchen bei der kuͤnſtlichen
Zuͤchtung. Aber dieſer wirkt planmaͤßig und bewußt, jener planlos und

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[210/0231] Triebfedern des Kampfes um’s Daſein: Hunger und Liebe. Jn einigen Faͤllen wurden auf einer ſolchen von Ziegen oder Schwei- nen uͤbervoͤlkerten Jnſel ſpaͤter von anderen Seefahrern ein Paar Hunde ausgeſetzt, die ſich in dieſem Futteruͤberfluß ſehr wohl befan- den, ſich wieder ſehr raſch vermehrten und furchtbar unter den Heer- den aufraͤumten, ſo daß nach einer Anzahl von Jahren den Hunden ſelbſt das Futter fehlte, und auch ſie beinahe ausſtarben. So wechſelt beſtaͤndig in der Oekonomie der Natur das Gleichgewicht der Arten, je nachdem die eine oder andere Art ſich auf Koſten der uͤbrigen ver- mehrt. Jn den meiſten Faͤllen ſind freilich die Beziehungen der ver- ſchiedenen Thier- und Pflanzenarten zu einander viel zu verwickelt, als daß wir ihnen nachkommen koͤnnten, und ich uͤberlaſſe es Jhrem eige- nen Nachdenken, ſich auszumalen, welches unendlich verwickelte Ge- triebe an jeder Stelle der Erde in Folge dieſes Kampfes ſtattfinden muß. Jn letzter Jnſtanz ſind die Triebfedern, welche den Kampf be- dingen, und welche den Kampf an allen verſchiedenen Stellen verſchie- den geſtalten und modificiren, die Triebfedern der Selbſterhaltung, und zwar ſowohl der Erhaltungstrieb der Jndividuen (Ernaͤhrungstrieb), als der Erhaltungstrieb der Arten (Fortpflanzungstrieb). Dieſe bei- den Grundtriebe der organiſchen Selbſterhaltung ſind es, von denen der Dichter ſagt: „So lange bis den Bau der Welt „Philoſophie zuſammenhaͤlt, „Erhaͤlt ſich ihr Getriebe „Durch Hunger und durch Liebe.“ Dieſe beiden maͤchtigen Grundtriebe ſind es, welche durch ihre verſchiedene Ausbildung in den verſchiedenen Arten den Kampf um’s Daſein ſo ungemein mannichfaltig geſtalten, und welche den Erſchei- nungen der Vererbung und Anpaſſung zu Grunde liegen. Wir konn- ten alle Vererbung auf die Fortpflanzung, alle Anpaſſung auf die Er- naͤhrung als die materielle Grundurſache zuruͤckfuͤhren. Der Kampf um das Daſein wirkt bei der natuͤrlichen Zuͤchtung ebenſo zuͤchtend oder ausleſend, wie der Wille des Menſchen bei der kuͤnſtlichen Zuͤchtung. Aber dieſer wirkt planmaͤßig und bewußt, jener planlos und

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/231>, abgerufen am 26.11.2024.