Wenn man unser Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Na- turwissenschaften nennt, wenn man mit Stolz auf die unermeßlich bedeutenden Fortschritte in allen Zweigen derselben blickt, so pflegt man dabei gewöhnlich weniger an die Erweiterung unserer allgemeinen Na- turerkenntniß, als vielmehr an die unmittelbaren praktischen Erfolge jener Fortschritte zu denken. Man erwägt dabei die völlige und un- endlich folgenreiche Umgestaltung des menschlichen Verkehrs, welche durch das entwickelte Maschinenwesen, durch die Eisenbahnen, Dampf- schiffe, Telegraphen und andere Erfindungen der Physik hervor- gebracht worden ist. Oder man denkt an den ungeheuren Einfluß, welchen die Chemie in der Heilkunst, in der Landwirthschaft, in allen Künsten und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch diesen Einfluß der neueren Naturwissenschaft auf das praktische Leben an- schlagen mögen, so muß derselbe, von einem höheren und allgemeineren Standpunkt aus gewürdigt, doch unbedingt hinter dem ungeheuren Einfluß zurückstehen, welchen die theoretischen Fortschritte der heutigen Naturwissenschaft auf die gesammte Erkenntniß des Menschen, auf seine ganze Weltanschauung und die Vervollkommnung seiner Bildung nothwendig gewinnen werden. Unter diesen theoretischen Fortschritten nimmt aber jedenfalls die von Darwin ausgebildete Theorie bei Weitem den höchsten Rang ein.
Jeder von Jhnen wird den Namen Darwins gehört haben. Aber die Meisten von Jhnen werden wahrscheinlich nur unvollkommene Vorstellungen von dem eigentlichen Werth seiner Lehre besitzen. Denn wenn man Alles vergleicht, was seit dem Erscheinen von Darwins epochemachendem Werk 1) über dasselbe geschrieben worden ist, so muß demjenigen der sich nicht näher mit den organischen Naturwissenschaf- ten befaßt hat, der nicht in die inneren Geheimnisse der Zoologie und Botanik eingedrungen ist, der Werth jener Theorie sehr zweifelhaft er- scheinen. Die Beurtheilung derselben ist so widerspruchsvoll, größten- theils so mangelhaft, daß es uns nicht Wunder nehmen darf, wenn noch jetzt, neun Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Werk, das- selbe nicht entfernt die Bedeutung erlangt hat, welche ihm von Rechts-
Allgemeine Bedeutung der Abſtammungslehre.
Wenn man unſer Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Na- turwiſſenſchaften nennt, wenn man mit Stolz auf die unermeßlich bedeutenden Fortſchritte in allen Zweigen derſelben blickt, ſo pflegt man dabei gewoͤhnlich weniger an die Erweiterung unſerer allgemeinen Na- turerkenntniß, als vielmehr an die unmittelbaren praktiſchen Erfolge jener Fortſchritte zu denken. Man erwaͤgt dabei die voͤllige und un- endlich folgenreiche Umgeſtaltung des menſchlichen Verkehrs, welche durch das entwickelte Maſchinenweſen, durch die Eiſenbahnen, Dampf- ſchiffe, Telegraphen und andere Erfindungen der Phyſik hervor- gebracht worden iſt. Oder man denkt an den ungeheuren Einfluß, welchen die Chemie in der Heilkunſt, in der Landwirthſchaft, in allen Kuͤnſten und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch dieſen Einfluß der neueren Naturwiſſenſchaft auf das praktiſche Leben an- ſchlagen moͤgen, ſo muß derſelbe, von einem hoͤheren und allgemeineren Standpunkt aus gewuͤrdigt, doch unbedingt hinter dem ungeheuren Einfluß zuruͤckſtehen, welchen die theoretiſchen Fortſchritte der heutigen Naturwiſſenſchaft auf die geſammte Erkenntniß des Menſchen, auf ſeine ganze Weltanſchauung und die Vervollkommnung ſeiner Bildung nothwendig gewinnen werden. Unter dieſen theoretiſchen Fortſchritten nimmt aber jedenfalls die von Darwin ausgebildete Theorie bei Weitem den hoͤchſten Rang ein.
Jeder von Jhnen wird den Namen Darwins gehoͤrt haben. Aber die Meiſten von Jhnen werden wahrſcheinlich nur unvollkommene Vorſtellungen von dem eigentlichen Werth ſeiner Lehre beſitzen. Denn wenn man Alles vergleicht, was ſeit dem Erſcheinen von Darwins epochemachendem Werk 1) uͤber daſſelbe geſchrieben worden iſt, ſo muß demjenigen der ſich nicht naͤher mit den organiſchen Naturwiſſenſchaf- ten befaßt hat, der nicht in die inneren Geheimniſſe der Zoologie und Botanik eingedrungen iſt, der Werth jener Theorie ſehr zweifelhaft er- ſcheinen. Die Beurtheilung derſelben iſt ſo widerſpruchsvoll, groͤßten- theils ſo mangelhaft, daß es uns nicht Wunder nehmen darf, wenn noch jetzt, neun Jahre nach dem Erſcheinen von Darwins Werk, das- ſelbe nicht entfernt die Bedeutung erlangt hat, welche ihm von Rechts-
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Allgemeine Bedeutung der Abſtammungslehre.
Wenn man unſer Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Na-
turwiſſenſchaften nennt, wenn man mit Stolz auf die unermeßlich
bedeutenden Fortſchritte in allen Zweigen derſelben blickt, ſo pflegt man
dabei gewoͤhnlich weniger an die Erweiterung unſerer allgemeinen Na-
turerkenntniß, als vielmehr an die unmittelbaren praktiſchen Erfolge
jener Fortſchritte zu denken. Man erwaͤgt dabei die voͤllige und un-
endlich folgenreiche Umgeſtaltung des menſchlichen Verkehrs, welche
durch das entwickelte Maſchinenweſen, durch die Eiſenbahnen, Dampf-
ſchiffe, Telegraphen und andere Erfindungen der Phyſik hervor-
gebracht worden iſt. Oder man denkt an den ungeheuren Einfluß,
welchen die Chemie in der Heilkunſt, in der Landwirthſchaft, in allen
Kuͤnſten und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch dieſen
Einfluß der neueren Naturwiſſenſchaft auf das praktiſche Leben an-
ſchlagen moͤgen, ſo muß derſelbe, von einem hoͤheren und allgemeineren
Standpunkt aus gewuͤrdigt, doch unbedingt hinter dem ungeheuren
Einfluß zuruͤckſtehen, welchen die theoretiſchen Fortſchritte der heutigen
Naturwiſſenſchaft auf die geſammte Erkenntniß des Menſchen, auf
ſeine ganze Weltanſchauung und die Vervollkommnung ſeiner Bildung
nothwendig gewinnen werden. Unter dieſen theoretiſchen Fortſchritten
nimmt aber jedenfalls die von Darwin ausgebildete Theorie bei
Weitem den hoͤchſten Rang ein.
Jeder von Jhnen wird den Namen Darwins gehoͤrt haben.
Aber die Meiſten von Jhnen werden wahrſcheinlich nur unvollkommene
Vorſtellungen von dem eigentlichen Werth ſeiner Lehre beſitzen. Denn
wenn man Alles vergleicht, was ſeit dem Erſcheinen von Darwins
epochemachendem Werk 1) uͤber daſſelbe geſchrieben worden iſt, ſo muß
demjenigen der ſich nicht naͤher mit den organiſchen Naturwiſſenſchaf-
ten befaßt hat, der nicht in die inneren Geheimniſſe der Zoologie und
Botanik eingedrungen iſt, der Werth jener Theorie ſehr zweifelhaft er-
ſcheinen. Die Beurtheilung derſelben iſt ſo widerſpruchsvoll, groͤßten-
theils ſo mangelhaft, daß es uns nicht Wunder nehmen darf, wenn
noch jetzt, neun Jahre nach dem Erſcheinen von Darwins Werk, das-
ſelbe nicht entfernt die Bedeutung erlangt hat, welche ihm von Rechts-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/23>, abgerufen am 22.11.2024.
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