Vererbung in Wechselwirkung tritt, wird sie die Ursache der Arbeits- theilung der verschiedenen Organe.
Ein achtes und letztes Anpassungsgesetz können wir als das Gesetz der unbeschränkten oder unendlichen Anpas- sung bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdrücken, daß uns keine Grenze für die Veränderung der organischen Formen durch den Einfluß der äußeren Existenzbedingungen bekannt ist. Wir können von keinem einzigen Theil des Organismus behaupten, daß er nicht mehr veränderlich sei, daß, wenn man ihn unter neue äußere Be- dingungen brächte, er durch diese nicht verändert werden würde. Noch niemals hat sich in der Erfahrung eine Grenze für die Abänderung nachweisen lassen. Wenn z. B. ein Organ durch Nichtgebrauch dege- nerirt, so geht diese Degeneration schließlich bis zum vollständigen Schwunde des Organs fort, wie es bei den Augen vieler Thiere der Fall ist. Andrerseits können wir durch fortwährende Uebung, Ge- wohnheit, und immer gesteigerten Gebrauch eines Organs dasselbe in einem Maße vervollkommnen, wie wir es von vornherein für un- möglich gehalten haben würden. Wenn man die uncivilisirten Wilden mit den Culturvölkern vergleicht, so findet man bei jenen eine Aus- bildung der Sinnesorgane, Gesicht, Geruch, Gehör, von der die Culturvölker keine Ahnung haben. Umgekehrt ist bei den höheren Culturvölkern das Gehirn, die Geistesthätigkeit in einem Grade ent- wickelt, von welchem die rohen Wilden keine Vorstellung besitzen. Jn beiden Fällen läßt sich der weiter gehenden Ausbildung durch gehäufte Anpassung keine Grenze setzen.
Allerdings scheint für jeden Organismus eine Grenze der An- passungsfähigkeit durch den Typus seines Stammes oder Phylum ge- geben zu sein, d. h. durch die wesentlichen Grundeigenschaften dieses Stammes, welche von dem gemeinsamen Stammvater desselben er- erbt sind und sich durch conservative Vererbung auf alle Descendenten desselben übertragen. So kann z. B. niemals ein Wirbelthier statt des charakteristischen Rückenmarks der Wirbelthiere das Bauchmark der Gliederthiere sich erwerben. Allein innerhalb dieser erblichen
Unbeſchraͤnkte oder unendliche Anpaſſung.
Vererbung in Wechſelwirkung tritt, wird ſie die Urſache der Arbeits- theilung der verſchiedenen Organe.
Ein achtes und letztes Anpaſſungsgeſetz koͤnnen wir als das Geſetz der unbeſchraͤnkten oder unendlichen Anpaſ- ſung bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdruͤcken, daß uns keine Grenze fuͤr die Veraͤnderung der organiſchen Formen durch den Einfluß der aͤußeren Exiſtenzbedingungen bekannt iſt. Wir koͤnnen von keinem einzigen Theil des Organismus behaupten, daß er nicht mehr veraͤnderlich ſei, daß, wenn man ihn unter neue aͤußere Be- dingungen braͤchte, er durch dieſe nicht veraͤndert werden wuͤrde. Noch niemals hat ſich in der Erfahrung eine Grenze fuͤr die Abaͤnderung nachweiſen laſſen. Wenn z. B. ein Organ durch Nichtgebrauch dege- nerirt, ſo geht dieſe Degeneration ſchließlich bis zum vollſtaͤndigen Schwunde des Organs fort, wie es bei den Augen vieler Thiere der Fall iſt. Andrerſeits koͤnnen wir durch fortwaͤhrende Uebung, Ge- wohnheit, und immer geſteigerten Gebrauch eines Organs daſſelbe in einem Maße vervollkommnen, wie wir es von vornherein fuͤr un- moͤglich gehalten haben wuͤrden. Wenn man die unciviliſirten Wilden mit den Culturvoͤlkern vergleicht, ſo findet man bei jenen eine Aus- bildung der Sinnesorgane, Geſicht, Geruch, Gehoͤr, von der die Culturvoͤlker keine Ahnung haben. Umgekehrt iſt bei den hoͤheren Culturvoͤlkern das Gehirn, die Geiſtesthaͤtigkeit in einem Grade ent- wickelt, von welchem die rohen Wilden keine Vorſtellung beſitzen. Jn beiden Faͤllen laͤßt ſich der weiter gehenden Ausbildung durch gehaͤufte Anpaſſung keine Grenze ſetzen.
Allerdings ſcheint fuͤr jeden Organismus eine Grenze der An- paſſungsfaͤhigkeit durch den Typus ſeines Stammes oder Phylum ge- geben zu ſein, d. h. durch die weſentlichen Grundeigenſchaften dieſes Stammes, welche von dem gemeinſamen Stammvater deſſelben er- erbt ſind und ſich durch conſervative Vererbung auf alle Deſcendenten deſſelben uͤbertragen. So kann z. B. niemals ein Wirbelthier ſtatt des charakteriſtiſchen Ruͤckenmarks der Wirbelthiere das Bauchmark der Gliederthiere ſich erwerben. Allein innerhalb dieſer erblichen
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Unbeſchraͤnkte oder unendliche Anpaſſung.
Vererbung in Wechſelwirkung tritt, wird ſie die Urſache der Arbeits-
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Ein achtes und letztes Anpaſſungsgeſetz koͤnnen wir als das
Geſetz der unbeſchraͤnkten oder unendlichen Anpaſ-
ſung bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdruͤcken, daß uns
keine Grenze fuͤr die Veraͤnderung der organiſchen Formen durch den
Einfluß der aͤußeren Exiſtenzbedingungen bekannt iſt. Wir koͤnnen
von keinem einzigen Theil des Organismus behaupten, daß er nicht
mehr veraͤnderlich ſei, daß, wenn man ihn unter neue aͤußere Be-
dingungen braͤchte, er durch dieſe nicht veraͤndert werden wuͤrde. Noch
niemals hat ſich in der Erfahrung eine Grenze fuͤr die Abaͤnderung
nachweiſen laſſen. Wenn z. B. ein Organ durch Nichtgebrauch dege-
nerirt, ſo geht dieſe Degeneration ſchließlich bis zum vollſtaͤndigen
Schwunde des Organs fort, wie es bei den Augen vieler Thiere der
Fall iſt. Andrerſeits koͤnnen wir durch fortwaͤhrende Uebung, Ge-
wohnheit, und immer geſteigerten Gebrauch eines Organs daſſelbe in
einem Maße vervollkommnen, wie wir es von vornherein fuͤr un-
moͤglich gehalten haben wuͤrden. Wenn man die unciviliſirten Wilden
mit den Culturvoͤlkern vergleicht, ſo findet man bei jenen eine Aus-
bildung der Sinnesorgane, Geſicht, Geruch, Gehoͤr, von der die
Culturvoͤlker keine Ahnung haben. Umgekehrt iſt bei den hoͤheren
Culturvoͤlkern das Gehirn, die Geiſtesthaͤtigkeit in einem Grade ent-
wickelt, von welchem die rohen Wilden keine Vorſtellung beſitzen. Jn
beiden Faͤllen laͤßt ſich der weiter gehenden Ausbildung durch gehaͤufte
Anpaſſung keine Grenze ſetzen.
Allerdings ſcheint fuͤr jeden Organismus eine Grenze der An-
paſſungsfaͤhigkeit durch den Typus ſeines Stammes oder Phylum ge-
geben zu ſein, d. h. durch die weſentlichen Grundeigenſchaften dieſes
Stammes, welche von dem gemeinſamen Stammvater deſſelben er-
erbt ſind und ſich durch conſervative Vererbung auf alle Deſcendenten
deſſelben uͤbertragen. So kann z. B. niemals ein Wirbelthier ſtatt
des charakteriſtiſchen Ruͤckenmarks der Wirbelthiere das Bauchmark
der Gliederthiere ſich erwerben. Allein innerhalb dieſer erblichen
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/221>, abgerufen am 27.11.2024.
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