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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Wechselbezügliche oder correlative Anpassung.
thraea, Monotropa. Thiere, welche ursprünglich selbstständig und
frei gelebt haben, dann aber eine parasitische Lebensweise auf andern
Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunächst die Thätigkeit
ihrer Bewegungsorgane und ihrer Sinnesorgane auf. Der Verlust
der Thätigkeit zieht aber den Verlust der Organe, durch welche sie be-
wirkt wurde, nach sich, und so finden wir z. B. viele Krebsthiere oder
Crustaceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organisations-
grad, Beine, Fühlhörner und Augen besaßen, im Alter als Para-
siten vollkommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungs-
werkzeuge und ohne Fühlhörner. Aus der munteren, beweglichen
Jugendform ist ein unförmlicher, unbeweglicher Klumpen geworden.
Nur die nöthigsten Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane sind noch
in Thätigkeit. Der ganze übrige Körper ist rückgebildet. Offenbar
sind diese tiefgreifenden Umbildungen großentheils directe Folgen der
gehäuften oder cumulativen Anpassung, des Nichtgebrauchs und der
mangelnden Uebung der Organe; aber zum großen Theile kommen
dieselben sicher auch auf Rechnung der wechselbezüglichen oder correla-
tiven Anpassung.

Ein siebentes Anpassungsgesetz, das vierte in der Gruppe der
directen Anpassungen, ist das Gesetz der abweichenden oder
divergenten Anpassung.
Wir verstehen darunter die Erschei-
nung, daß ursprünglich gleichartig angelegte Theile sich durch den
Einfluß äußerer Bedingungen in verschiedener Weise ausbilden. Dieses
Anpassungsgesetz ist ungemein wichtig für die Erklärung der Arbeits-
theilung oder des Polymorphismus. An uns selbst können wir es
sehr leicht erkennen, z. B. in der Thätigkeit unserer beiden Hände.
Die rechte Hand wird gewöhnlich von uns an ganz andere Arbeiten
gewöhnt, als die linke; es entsteht in Folge der abweichenden Be-
schäftigung auch eine verschiedene Bildung der beiden Hände. Die
rechte Hand, welche man gewöhnlich viel mehr braucht, als die linke,
zeigt stärker entwickelte Nerven, Muskeln und Knochen. Ebenso findet
man häufig die beiden Augen nach diesem Gesetze verschieden entwi-
ckelt. Wenn man sich z. B. als Naturforscher gewöhnt, immer nur mit

Wechſelbezuͤgliche oder correlative Anpaſſung.
thraea, Monotropa. Thiere, welche urſpruͤnglich ſelbſtſtaͤndig und
frei gelebt haben, dann aber eine paraſitiſche Lebensweiſe auf andern
Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunaͤchſt die Thaͤtigkeit
ihrer Bewegungsorgane und ihrer Sinnesorgane auf. Der Verluſt
der Thaͤtigkeit zieht aber den Verluſt der Organe, durch welche ſie be-
wirkt wurde, nach ſich, und ſo finden wir z. B. viele Krebsthiere oder
Cruſtaceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organiſations-
grad, Beine, Fuͤhlhoͤrner und Augen beſaßen, im Alter als Para-
ſiten vollkommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungs-
werkzeuge und ohne Fuͤhlhoͤrner. Aus der munteren, beweglichen
Jugendform iſt ein unfoͤrmlicher, unbeweglicher Klumpen geworden.
Nur die noͤthigſten Ernaͤhrungs- und Fortpflanzungsorgane ſind noch
in Thaͤtigkeit. Der ganze uͤbrige Koͤrper iſt ruͤckgebildet. Offenbar
ſind dieſe tiefgreifenden Umbildungen großentheils directe Folgen der
gehaͤuften oder cumulativen Anpaſſung, des Nichtgebrauchs und der
mangelnden Uebung der Organe; aber zum großen Theile kommen
dieſelben ſicher auch auf Rechnung der wechſelbezuͤglichen oder correla-
tiven Anpaſſung.

Ein ſiebentes Anpaſſungsgeſetz, das vierte in der Gruppe der
directen Anpaſſungen, iſt das Geſetz der abweichenden oder
divergenten Anpaſſung.
Wir verſtehen darunter die Erſchei-
nung, daß urſpruͤnglich gleichartig angelegte Theile ſich durch den
Einfluß aͤußerer Bedingungen in verſchiedener Weiſe ausbilden. Dieſes
Anpaſſungsgeſetz iſt ungemein wichtig fuͤr die Erklaͤrung der Arbeits-
theilung oder des Polymorphismus. An uns ſelbſt koͤnnen wir es
ſehr leicht erkennen, z. B. in der Thaͤtigkeit unſerer beiden Haͤnde.
Die rechte Hand wird gewoͤhnlich von uns an ganz andere Arbeiten
gewoͤhnt, als die linke; es entſteht in Folge der abweichenden Be-
ſchaͤftigung auch eine verſchiedene Bildung der beiden Haͤnde. Die
rechte Hand, welche man gewoͤhnlich viel mehr braucht, als die linke,
zeigt ſtaͤrker entwickelte Nerven, Muskeln und Knochen. Ebenſo findet
man haͤufig die beiden Augen nach dieſem Geſetze verſchieden entwi-
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[198/0219] Wechſelbezuͤgliche oder correlative Anpaſſung. thraea, Monotropa. Thiere, welche urſpruͤnglich ſelbſtſtaͤndig und frei gelebt haben, dann aber eine paraſitiſche Lebensweiſe auf andern Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunaͤchſt die Thaͤtigkeit ihrer Bewegungsorgane und ihrer Sinnesorgane auf. Der Verluſt der Thaͤtigkeit zieht aber den Verluſt der Organe, durch welche ſie be- wirkt wurde, nach ſich, und ſo finden wir z. B. viele Krebsthiere oder Cruſtaceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organiſations- grad, Beine, Fuͤhlhoͤrner und Augen beſaßen, im Alter als Para- ſiten vollkommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungs- werkzeuge und ohne Fuͤhlhoͤrner. Aus der munteren, beweglichen Jugendform iſt ein unfoͤrmlicher, unbeweglicher Klumpen geworden. Nur die noͤthigſten Ernaͤhrungs- und Fortpflanzungsorgane ſind noch in Thaͤtigkeit. Der ganze uͤbrige Koͤrper iſt ruͤckgebildet. Offenbar ſind dieſe tiefgreifenden Umbildungen großentheils directe Folgen der gehaͤuften oder cumulativen Anpaſſung, des Nichtgebrauchs und der mangelnden Uebung der Organe; aber zum großen Theile kommen dieſelben ſicher auch auf Rechnung der wechſelbezuͤglichen oder correla- tiven Anpaſſung. Ein ſiebentes Anpaſſungsgeſetz, das vierte in der Gruppe der directen Anpaſſungen, iſt das Geſetz der abweichenden oder divergenten Anpaſſung. Wir verſtehen darunter die Erſchei- nung, daß urſpruͤnglich gleichartig angelegte Theile ſich durch den Einfluß aͤußerer Bedingungen in verſchiedener Weiſe ausbilden. Dieſes Anpaſſungsgeſetz iſt ungemein wichtig fuͤr die Erklaͤrung der Arbeits- theilung oder des Polymorphismus. An uns ſelbſt koͤnnen wir es ſehr leicht erkennen, z. B. in der Thaͤtigkeit unſerer beiden Haͤnde. Die rechte Hand wird gewoͤhnlich von uns an ganz andere Arbeiten gewoͤhnt, als die linke; es entſteht in Folge der abweichenden Be- ſchaͤftigung auch eine verſchiedene Bildung der beiden Haͤnde. Die rechte Hand, welche man gewoͤhnlich viel mehr braucht, als die linke, zeigt ſtaͤrker entwickelte Nerven, Muskeln und Knochen. Ebenſo findet man haͤufig die beiden Augen nach dieſem Geſetze verſchieden entwi- ckelt. Wenn man ſich z. B. als Naturforſcher gewoͤhnt, immer nur mit

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/219>, abgerufen am 27.11.2024.